Mittwoch, 2. September 2020
Mi., 2. Sept.
Dr. Lohse berichtet – die 24. Und 25. Woche der Pandemie in Münsing Der Sommer macht Pause. Die Schwalben packen die Koffer, die Flugübungen haben sie gekräftigt, sie werden weniger. Dafür geben die Früchte der Natur noch einmal richtig Gas: Die Äpfel werden schwer und schwerer, nachts hört man manchmal ein lautes Plumpsen aus der Richtung des Apfelbaumes, wieder einer heruntergefallen. Meine Weinstöcke zeigen stolz ihre Trauben, sie sind schon violett geworden und werden dicker. Fast täglich koste ich eine, leider sind sie noch recht sauer.

Nach dem Urlaub war der Start in der Praxis – der EDV sei Dank - ja fast ein Fiasko geworden, Sonntagabend schien die Welt gerettet, Montagvormittag kommt aber noch ein Spannungsmoment durch einen erneuten Telefonausfall für eine Stunde, dann läuft wieder alles. Oh du wohltuender Alltag, wenn alles funktioniert.
Neben dem hausärztlichen Routinealltag schiebt sich nun doch unser kleines Virus wieder auf die Bühne.
Als grundbedächtiger Mensch forciere ich seit Anfang Juli den Auf- und Ausbau unseres Drive-In in Münsing mit Bedacht weit vorausplanend, erste Durchläufe finden statt, wir testen pro Tag etwa 40 Personen, fischen auch der ersten Covid-19 positiven heraus.
Dann werden wir mit Schwung rechts überholt: Die bayerische Staatsregierung hat eine Anordnung an alle Landkreise „rausgehauen“, die besagt, dass bis zum 31.8. jeder Landkreis ein großes Testzentrum bereitstellen muss. Auf der kommunalen Ebene war mit Ende des Katastrophenfalles schlagartig alles abgebaut worden. Nun wird festgestellt, dass die Ferien bald herum sind und dringendster Handlungsbedarf besteht. Die Zentren sollen pro Tag 2-3 Promille eines Landkreises testen können, in unserem Fall Landkreis also etwa 300 Menschen. Die EDV soll für täglich mehrere Tausend Fälle bereitstehen. Die Landratsämter wurden letzte Woche mit einer Serie hoch detaillierter Anweisungen bombardiert, dass sie mir wirklich leid tun. Bei genauem Studium kann man sich den Schreibtisch fast schon vorstellen, an dem ohne Störung durch lästige Realitäten begeistert getüftelt wurde. Es wird lieber vorgeschrieben, dass alle Teststationen standardisiert sein sollen, als auch nur ein Eckerl Gestaltungsfreiheit zu lassen. Die Kosten sind egal. Böse Zungen würden das teuren Aktionismus nennen. Jetzt sind Pressemitteilungen herausgekommen, der Merkur hat es auch schon abgedruckt: Am 1. September beginnen in der neu erstandenen Tölzer Teststation am Eisstadiondie ersten Testungen, vergeben an eine Privatfirma. Respekt, ganz tiefen Respekt vor den Mitarbeitern im Landratsamt!
Da freue ich mich wieder, ein kleiner Dorfarzt zu sein, und tun zu können, was ich gelernt habe. Klar ist: Aktiv sein müssen wir, aber dieses stopp und go, dieser aktuelle politische Schaufensteraktionismus nervt. Es ist schwierig geworden, zu durchschauen, was wirklich wichtig ist. Bei diesem Zickzack tun sich Allesablehner leicht, zu unterstellen, dass das alles Quatsch ist.

Zum Abschluss für heute eine kleine persönliche Anmerkung zu den Mund-Nase-Masken: Zu Beginn der Pandemie war ich ja begeistert von der kreativen Vielfältigkeit der Gesichtsbedeckungen aus Stoff. Bin ich immer noch.
Aber die zunehmende Angewohnheit, die Nase nicht zu bedecken, finde ich sehr unhöflich. Erstens schaut es aus, als würde ein Kleidungsstück zu tief hängen und da schaut was raus, zweitens ist es eine Respektlosigkeit sondersgleichen, da es ja nicht um den Eigen- sondern den Fremdschutz geht.

Draußen naht die Nacht. Während ich weiß, dass im Landratsamt jetzt am Wochenende noch lange die Lichter an sein werden, kann ich mich erfreulicheren Dingen zuwenden und noch eine Runde singen.

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Geht’s noch? Jetzt war ich eine Zeit lang echt sprachlos angesichts der Umtriebe meiner Zeitgenossen. Ich habe dauernd nach Amerika geschaut und mit offenem Mund gestaunt, wie dort ein Opa gegen den anderen einen Bürgerkrieg vom Zaum bricht, und hätte dabei fast übersehen, was hier so abgeht. Virologen erhalten Morddrohungen und Leute mit Regenbogenfahnen tun sich mit Reichbürgern und Nazis zusammen und wollen gemeinsam den Reichstag stürmen.



Geht’s eigentlich noch? Wegen eines Virus? Wegen der Maßnahmen, die dagegen ergriffen werden – die zwar nerven, die uns aber bei Einhaltung davor bewahren, dass weit einschneidendere ergriffen werden müssen oder dass die Pandemie sich sehr viele Opfer holt. Wissen die eigentlich, wie’s in anderen Ländern aussieht? Ich bin absolut kein Nationalist, noch nicht mal ein Patriot – es reicht vielleicht gerade noch zu ein bisschen Münsinger Lokalpatriotismus –, aber ich frage mich, in welchem Land würden die denn gern leben? Wo ist es derzeit besser als bei uns? Welches Europäische Land, welcher Industriestaat, welches Land überhaupt hat niedrigere Infektions- und Opferraten als wir? Ihr Ballermänner, Aluhutträger, Reichsflaggenschwenker, Holocaustleugner, Putinschreier, QAnonisten, Trumpisten, Pegidas und so weiter: Sucht euch ein Land aus, in dem es besser ist als bei uns und schreibt mir eine Ansichtskarte, denn es würde mich stark interessieren, wo Ihr da landet.
Und all Ihr netten Leute, die Ihr nicht so in Urlaub fahren konntet, wie Ihr’s gerne gehabt hättet, Ihr Eltern, die Ihr euch so viel mit Euren Kindern befassen müsst, und all die Feierbiester, die nicht so können wie sie wollen: Könnt Ihr nicht die Füße stillhalten und einfach mal abwarten? Es wird schon.

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