Sonntag, 27. Dezember 2020
So., 27. Dez. 2020
Dr. Lohse berichtet: Die 42. Woche der Pandemie in Münsing
Vor 32 Jahren feierten meine Frau und ich unsere ersten gemeinsamen zweisamen Weihnachten als frisch verheiratetes Ehepaar. Da hatte ich noch mehr, aber weniger graue Haare als heute. Dafür war ich deutlich schlanker. Jetzt feiern wir unsere zweiten gemeinsamen zweisamen Weihnachten. Unsere drei Töchter, damals noch nicht einmal angedacht, sind nun aus dem Haus und gehen ihren Weg als Ärztinnen. Wäre jetzt nicht die Zeit der Pandemie, vielleicht wäre das Haus voller Gäste. So hat es aber auch etwas Schönes – das Haus ist ja nicht leer, weil die Töchter geflüchtet sind, sondern weil sie auf einem guten eigenen Weg sind.

Der Impfstoff ist da. Morgen wird er zum ersten Mal seinen Weg zu den ersten Patienten finden. Unsere ersten mobilen Impfteams werden nach Bad Tölz und Lenggries fahren und in zwei Seniorenheimen anfangen, die Bewohner durch die Impfungen zu schützen. Nach 21 Tagen kommt dort eine zweite Runde, dann dauert es noch eine Woche und wir dürfen auf guten Schutz hoffen. In der jetzt kommenden Woche wird es dann Schlag auf Schlag weitergehen, die nächsten Lieferungen, nun in Tausenderzahlen sind angekündigt.
Medial tost ein wildes Getümmel. Verantwortungsträger der Regierungen klopfen sich vorsichtig auf die Schultern. Viel lauter aber die kakophonen Nörgler, sei es der oberste FDPler, der sich damals, als es um die Übernahme von Regierungsverantwortung ging, sang- und klanglos davonschlich. Oder die AFDler, von denen einer der Parlamentarier, der stets ohne Mundschutz posierte, auf einer Intensivstation nach Atem ringt. Was hätten sie nicht alles besser gemacht, was läuft nicht alles falsch… Gestern stöberte ich etwas im Internet, da ich mal wissen wollte, was die aktuellen alternativen Fakten zu bieten haben. Staunend las ich, dass es die spanische Grippe eigentlich gar nicht gegeben habe, sondern dieses hunderttausendfache Sterben vor 100 Jahren auf giftigen Impfungen beruht habe. Dass die Existenz des Poliovirus nie bewiesen wurde. Und dass die nun kommende Impfung Frauen unfruchtbar mache.
Davon unbeeindruckt fahren morgen die ersten Teams nach Bad Tölz, Gott sei Dank.

Was hat es nicht für unglaubliche Vorarbeiten gebraucht: Seit Anfang diesen Jahres wird an allen Ecken der Weltkugel gesucht und geforscht. Tausende entwickeln und tüfteln, diskutieren, beobachten und experimentieren. Seit Mai haben zehntausende den Mut und stellen sich als Probanden für die verschiedenen Impfungen zur Verfügung (kleine Anekdote am Rande: Putin ließ seine Tochter Katerina Tichonowa Mitte August mit dem russischen Phase 3 Impfkandidaten medienwirksam zu impfen, jetzt erwägt er, drei Monate und viele 10.000 Russen später, sich selber impfen zu lassen – das ist echter Männermut!).
Seit vielen Wochen bauen rund um die Welt Hunderttausende die Logistik zur Verteilung des Impfstoffes auf, damit ab jetzt erst Millionen, vielleicht Milliarden Menschen geimpft werden können.
Aber noch sind wir nicht so weit, ich wollte nur kurz innehalten, um am Weg zurück und dann wieder nach vorne zu blicken.

Die Herausforderung nun ist, dass kein einziger Impfstoff verfällt. Wir haben eine klare Priorisierung, das heißt, zuerst werden die am höchsten von tödlichen Komplikationen bedrohten Menschen geimpft – und die, die sie versorgen (Altenheime und deren Mitarbeiter). Ganz dicht dahinter sind Kliniken, dort insbesondere die Intensivstationen und Notaufnahmen dran. Da aber Lücken zu befürchten sind, d.h. dass geplante Impfungen nicht stattfinden, besteht die Gefahr, dass Impfstoff, der nach der Lieferung nur vier Tage lang haltbar ist, verfällt. Dazu bilden wir nun kleinere rasch abrufbare „Reservekontingente“ mit Kandidaten hoher Priorität. Rettungsdienste, Arztpraxen mit vielen Covid-19 Patienten und die Polizei stellen solche Reservekontingente dar, die für „Restimpfungen“ einberufen werden können. Wenn sich die erste Phase dann gegen Ende neigt (mitsamt ihrer 2. Runde nach 21 Tagen), dann wird wohl auch die staatliche Software so weit sein, dass sich jedermann im Internet unter Angabe seiner Priorisierungsdaten um einen Impftermin bewerben kann. Streng nach Landkreis zugeordnet und nach der Priorisierungsreihenfolge gestaffelt.

Beim Blick nach vorne bin ich wirklich wirklich gespannt, wie viele Menschen sich impfen lassen wollen. Man kann sich ja nicht so ein bisschen impfen lassen. Es geht auch nicht so nebenbei oder aus Versehen. Es ist eine bewusste Entscheidung. Es ist eine Konfrontation mit der Realität. Und es ist eine Frage des Vertrauens, Vertrauen in die bisherigen Untersuchungen und in die Zukunft. Für mich ist es auch ein klares Bekenntnis zu meiner eigenen Authentizität, zur Ernsthaftigkeit dessen, was ich wissenschaftlich denke, ärztlich spreche und tue. Natürlich werde ich mich impfen lassen, sobald es möglich ist und ich an der Reihe bin. Vordrängeln und jemandem Schutzbedürftigen die Impfung wegnehmen werde ich mich nicht – aber bisserl hoffen, als Reservekontingent bald dran zu kommen, tu ich schon.

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