Montag, 29. März 2021
Mo., 29. März 2021
Dr. Lohse berichtet: Die 55. Woche der Pandemie in Münsing
Endlich scheint sich der Frühling gegen den Winter durchzusetzen. Zwar frostet es nachts noch, aber die morgentliche Luft und die Kraft der Sonne signalisieren die nahende warme Jahreszeit. Ich mache mich jetzt auf zu dem etwas längeren Fußweg zur Kirche nach Holzhausen, heute ist Palmsonntag. Die beste aller Ehefrauen ist schon unterwegs die kirchliche Außenveranstaltung vorzubereiten: Wegen der Kontaktbeschränkungen kann ein Gottesdienst mit nennenswerten Besucherzahlen nicht in der Kirche stattfinden, sondern man sammelt sich zu Außengottesdiensten.

Auf dem Weg riecht es nach Frühling, die Staren plustern, zwitschern und versuchen, die Holde von den Vorzügen der gefundenen Unterkunft zu überzeugen. Neu auf dem Weg ist das markante Knarzschnarren der Elstern, die erstmal mir bekannt hier nisten. Schwer beladen schleppen sie an der Grenze der Flugtauglichkeit Aststücke Richtung Nest.
Es geht mir beim Weitergehen die heutige Kolumne des SZ-Schreibers H. P. durch den Kopf, der den Ausfall von Ostern beklagte, klagt, dass dieses Jahr alles nichts sei.
Die Überschrift ?die gefährliche Lust am katastrophischen Denken? hat mich neugierig gemacht auf seinen Artikel, der auch mit ?grassierende Schwarzseherei führt zu Depression und Aggression? überschrieben ist. Er zitiert Goethes Gedicht Osterspaziergang, das mit der Zeile ?vom Eise befreit? beginnt, das von ?erwachendem Leben, bunten Getümmel in der Natur und von grünendem Hoffnungsglück? schwärmt. Und dann schmiert er ab in ?Es ist dies ein Gefühl, das sich an Ostern 2021 nicht einstellen mag. Der Lockdown sei wie ein immerwährender Winter?. Leider versinkt dieser Artikel immer tiefer in diesem Sumpf der Schwarzmalerei, den er doch so beklagt, aber selber immer tiefer gräbt.
In der Ferne übt jemand Flöte ? oder Klarinette? Zwischen den Vogeltiraden, die im freien Feld leiser werden, trägt ein Hauch leise Töne eines Melodiefragments heran, das noch geübt werden möchte. Aus dem nahenden Wald vor Holzhausen trommelt der Specht, Nachbarn aus dem Dorf kommen entgegen, freuen sich am Sonnenschein, ein kurzer Ratsch. Weiter durch eine Waldengstelle, voll mit Märzenbechern, Anemonen und scharrenden Amseln, oben in den Wipfeln blühende Weidenkatzerl.
Ob der Zeitungsschreiber immer noch am Bildschirm sitzt und den Lockdown beklagt? Seine Jammerei schiebt sich immer wieder in meine Wahrnehmung, macht mich kurz etwas zornig, dann aber mitleidig. Ob er blind ist für den Inhalt von Goethes Gedicht, das Leben nicht mehr wahrnehmen kann?
Nicht, dass ich Goethe besonders mag, aber einen guten Blick hat er schon gehabt, für die Natur und das Besondere. Inmitten einer Zeit, die wir heute gar nicht ertragen könnten, mit viel Krankheit, Tod und Kriegen, wenig Urlaub und keiner Sozialversicherung.
Die Blumenwiese rechts am Hang, liebevoll bepflanzt, reißt mich aus diesem Brummeldenken, Bienen kreisen schon am frühen Morgen.
Halb zehn, die Kirchenglocken rufen, mir wird vom flotten Gehen warm.
Der Gottesdienst findet, schön umgeben mit Blumengestecken, am alten Schulhaus in Holzhausen statt. Der Altar ist im Treppenbogen vor dem Hauseingang aufgestellt, als wäre dieser Ort dafür geschaffen. Der Boden ist mit Kreide in Abstandsflächen eingeteilt, jeder kennt jeden, mehr Besucher als sonst, aber alle in entspanntem Abstand, lächelnd hinter der Maske. Der Pfarrer macht es trotz nahendem Ostern pandemisch kurz, predigt zur Frage nach dem Wesentlichen. Nicht die kunsthistorisch bedeutsame Kirche, nicht die Pracht, sondern das Syn. (griechsich für zusammen/gemeinsam) ist wesentllich. Ein Brixener Bischof habe diese drei Buchstaben als Leitspruch gewählt. Das Zusammen, das Gemeinsame. Auch in diesen Zeiten viel Bedrohung, Kriege, Pest und Cholera.
In Gottesdiensten träume ich manchmal vor mich hin, besonders, wenn die Sonne so schön scheint. Mir fällt noch das ?carpe diem? (lateinisch: ?pflücke den Tag?) aus dem auch nicht unbekümmerten Rom vor zweitausend Jahren ein. Nimm ihn wahr, nimm ihn an, nimm ihn auf den Tag.
Bevor ich nun ganz ins Träumen komme, ruft mich die kleine Gruppe der Bläser zur Ordnung, die den Gottesdienst aus gebührendem Abstand musikalisch begleitet. Die ante Pandemie -Truppe war fehlerfrei, perfekt und professionell. Jetzt, nach einem Jahr Pandemie haut es nicht perfekt hin, sie bringen ihre Stückerl durcheinander. Ein wirklich perfekter Gottesdienst, ich freue mich bis ins Tiefste. Keiner zeigt Perfektion, wir stehen in der Sonne, spüren das Syn.
Und erlauben uns, den Tag zu pflücken, trotz Pandemie, trotz dräuender Mutationen, trotz trotz trotz.
Lieber Herr H. P., ich lade Sie ein zu einem Spaziergang. Und wenn es schneit zeige ich Ihnen die Faszination der Eiskristalle und die tiefere Bedeutung einer kalten Nase. Aber vielleicht übt in der Ferne auch wieder jemand Flöte.

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