Samstag, 1. Januar 2022
Sa., 1. Januar 2022
Dr. Lohse berichtet: Die 94. Woche der Pandemie in Münsing
Das Wetter schlägt Kapriolen, heute am 1. Januar hat es unfassbare 13°, morgen sollen es 15° werden, um in vier Tagen wieder zu schneien. Der Sonnenuntergang ist sensationell, fast ein Fall für den Tourismusverband.



Die Pandemie hat mich gelehrt, dass vieles anders kommt als gedacht. Gedacht war eine ruhige Woche, wenige feste Termine, zwei Ärzte in der Praxis (einer davon ich), quasi, beschauliche Tage zwischen den Feiertagen. Gekommen ist eine beinharte Woche mit vielen auch sehr schwer kranken Patienten bei lückenhafter Besetzung.

Meine Praxispartnerin, eine engagierte und erfahrene Internistin und Kardiologin fährt in den Tagen vor Weihnachten zu ihrer Familie nach Norddeutschland, ein regelkonformes Treffen nach langer Zeit. Am Freitag erkrankt eine Person der Familie (es sind alle geimpft, aber nur teilweise geboostert), Coronatests ergeben, dass mehrere Familienmitglieder positiv sind.
Somit fällt die Kollegin, die Dank der Impfung und ihrer robusten Konstitution nur schwach erkrankt ist, aus. Also wird es nichts aus der gemütlichen Woche. Vielleicht ist sie nächste Woche wieder einsatzfähig.

Gleich am Montag kommen viele Patienten mit Infektzeichen, darunter auch eine junge Mutter, die vor über 10 Tagen an Covid-19 erkrankt ist. Seit einem Tag geht es ihr nach zunächst günstigem Verlauf schlechter, sie muss ständig husten, kann sich überhaupt nicht mehr belasten. Ihr Mann und die beiden Schulkinder kommen nach ihrer Coronainfektion gerade wieder auf die Beine, es hatte alle erwischt. Die beiden Eltern hatten sich kurz vor ihrer Erkrankung mit dem Impfstoff von Johnson und Johnson impfen lassen, der anerkanntermaßen bei den aktuellen Mutationen nicht viel wert ist.
Schon bei der ersten kurzen Untersuchung wird klar, dass es sich um einen höchst bedrohlichen Zustand handelt, die Lunge vermag trotz heftigen Atmens das Blut nur zu 85% mit Sauerstoff anzureichern, beim Abhören der Lunge muss ich streng auf meine Mimik achten, so schlecht klingt die Lunge der vorher kerngesunden Frau. Die Option einer sofortigen Klinikeinweisung wird gemeinsam besprochen. Wegen ihrer Kinder und dem derzeitigen absoluten Besuchsverbot wollen wir alles unternehmen, um dies zu verhindern. Die am Nachmittag eintreffenden Laborergebnisse bestätigen die Dramatik der klinischen Untersuchung: Schwerste Lungenentzündung mit einem hoch aktivierten Gerinnungssystem, was auf viele kleine Embolien in der Lunge weist.
Bis dahin ist die Patientin schon von mir mit einem Sauerstoffgerät versorgt, als Reserve stehen große Sauerstoff-Flaschen zuhause. Die Patientin bekommt Blutverdünner, zweierlei Antibiotika, Kortison in hoher Dosis und hängt an einer kontinuierlichen Sauerstoffüberwachung. . Nach den Laborergebnissen am Nachmittag werde ich ob meines Mutes doch etwas blass und rufe bei einem sehr erfahrenen Klinikkollegen an und lasse mein Vorgehen von ihm überprüfen. Nach seiner Meinung sind wir bei einem Therapiemaximum, das könnte er auch in der Klinik nicht besser. Der nächste Schritt wäre Intensivstation und Beatmung. Abends gehe ich diesen mich doch sehr beeindruckenden Fall noch mit unseren Töchtern und Schwiegersohn durch, die alle in den Kliniken auf Intensivstationen Covidpatienten betreuen. Hier kommt noch der Ratschlag, dass die Patientin so oft wie möglich auf dem Bauch liegen und schlafen solle.
Tägliche Telefonate und eine Kontrolluntersuchung zwei Tage lassen mir Berge von Felsbrocken vom Herz fallen, es geht der Patientin zusehends besser, die Laborwerte werden besser, der Sauerstoffverbrauch sinkt allmählich. Gott sei Dank. Dank an hilfreiche Kollegen und unser abendliches Familienkonsil.

Am Mittwoch dieser ereignisreichen Woche trifft dann Omicron unsere eigene Praxis: Eine der Mitarbeiterinnen mit zwei kleineren Kindern trifft sich an den Feiertagen im Familienkreis ganz den Regeln entsprechend mit einer anderen Familie. Kurz danach die Brandmeldung: die Kinder der anderen Familie sind erkrankt, haben Corona, die Omikronvariante! An Mittwoch dieser Woche erkrankt dann das 6 Monate alte Kind unserer Mitarbeiterin, 40° Fieber, Erbrechen, Durchfall, behält nichts bei sich. Tags drauf bekommt die Mitarbeiterin, die coronageimpft ist, Symptome, nun auch ihr anderes Kind. Die Tests sind positiv, Omicronmutation.
Im Team waren wir auf eine ruhige Woche mit leicht reduzierter Besetzung eingestellt gewesen, es ist eine turbulente Woche mit sehr sehr knapper Besetzung. Gerade die dichte Abfolge dieser Fälle, kranke Ärztin, schwerstkranke Familienmutter zweier Kinder, dann noch die kranke Arzthelferin ? trotz Impfung und Booster. Die Kaffeemaschine, ein beliebter Treff für die kleine Pause zwischendurch wandert in den Keller, FFP2 Masken werden durchgehend getragen, ich muss gar nichts mehr sagen. Wir sind alle zutiefst beeindruckt und passen auf.
Mein täglich geäußerter fröhlicher Satz lautet trotzdem und erst recht: ?Ostern wird schön, da ist`s rum!?.
Bis dahin sind es aber noch dreieinhalb Monate.
Das Impfen in der Praxis hören wir angesichts der vor uns stehenden Probleme auf. Die Impfzentren sind wieder zu voller Leistungsfähigkeit aufgebaut, da können wir uns einstweilen ausklinken. Wir werden uns die nächsten Wochen um viele Kranken kümmern und schauen, dass unsere Praxis nicht selbst ausfällt.

Wenn meine Kollegin Anfang kommender Woche wieder gesund ist und ihre Testung günstig ausfällt, dann werde ich ab Dienstag doch noch ein paar Tage frei haben. Da wartet unser Fischweiher schon auf mich, der Zulauf möchte gepflegt werden. Bis dahin solle es laut Wetterprognose wieder regnen und in Schnee anstehen. Hoffentlich erkälte ich mich nach so viel Wärme nicht.

***

... comment