Sonntag, 16. Januar 2022
Mi., 12. Januar 2022
Dr. Lohse berichtet: Die 95. Woche der Pandemie in Münsing
Die Tage werden länger, unüberspürbar. Allerdings zieht es mich bei Sturm, Regen, Schnee und Matsch im regelmäßigen Wechsel nicht für lange aus dem warmen Inneren, weg von Kaffeetasse, Kerze und schöner Musik. Wo morgens nach einem gemeinsamen Quartettsingen in der Kirche klassische Musik das Frühstück garnierte, klingt nun langsam swingender Reggae aus dem Radio.
In mir mischen sich in flotter Abfolge unterschiedlichste Emotionen, von Alarmstimmung über konzentriertem Arbeitsmodus bis hin zu entspannter Ruhe. Nach langem Lauf der Pandemie scheint es fast wie auf eine Art Höhepunkt, einen showdown hinzustreben, in vielerlei Hinsicht.

Zunächst meine konkrete persönliche Sicht und Erfahrungssammlung:
Omikron stellt alles auf den Prüfstand, leider auch manches auf den Kopf. Diese Variante des Coronavirus verbreitet sich sehr schnell, leider auch unter den Geimpften. Ich sehe wieder viele coronapositive Patienten, von denen nun auch viele geimpft oder auch geboostert sind. Keiner von den Geimpften ist schwer erkrankt, ob sich ein Postcovid-Syndrom anschließen wird, kann keiner vorhersagen. Allen schwer erkrankten der letzten Wochen geht es erfreulicherweise wieder viel besser.
Eine brandaktuelle Untersuchung aus Großbritannien, wo Omikron schon drei Wochen länger grassiert, zeigt die Bedeutung des Abstands zur letzten Impfung. Bezüglich Ansteckung schützt die Impfung von Astra Zeneca nach 20 Wochen überhaupt nicht mehr, die von Biontech 20 Wochen nach der Grundimmunisierung nur noch zu 10 %, 5-10 Wochen nach Boosterung nur noch zu 40-50%. Vor schwerer Erkrankung besteht bei den mRNA Impfstoffen weiterhin ein sehr hoher Schutz.
So ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu einer sehr weitgehenden Ansteckungswelle in den nächsten Wochen kommt. Unsere ?wissenschaftsorientierten? Politiker lesen offensichtlich andere Studien und haben in ihrer jüngsten Sitzung beschlossen, dass frisch Geimpfte, Geboosterte oder frisch Genesene bei Kontakt nicht in Quarantäne müssen ? welch Schwachsinn angesichts dieser neuen, inzwischen wissenschaftlich bestätigten Berichte. Dadurch soll die kritische Infrastruktur geschützt werden, da weniger in Quarantäne müssen. Dafür werden halt noch schneller noch mehr krank. It`s showtime!

Solche Dinge vor Augen haben wir nun unser Team wie in der ersten Welle in zwei Gruppen aufgeteilt, um die Gefahr einer gegenseitigen Ansteckung zu minimieren. Allerdings planen wir immer nur zwei Wochen voraus, dann kann ja schon wieder alles anders sein.
Was bin ich froh, ein so waches und flexibles Team in unserer Praxis zu sehen ? jede bringt ihre Stärken ein, einige arbeiten per Fernzugriff auf den Server von zuhause aus, Termine verschieben, Abrechnung machen ? es muss ja alles laufen. Auch die Patienten tragen es meist mit Fassung, wissen sie doch, dass alle ihr Bestes geben.
Die Sicht etwas weiter über meinen Tellerrand zeigt mir das Zutreffen meiner Prognose, ein gigantisches Infektionsgeschehen auf der ganzen Welt. Während Deutschland noch mit Zahlen im 300 er Bereich zu träumen glaubt, ist die Inzidenz in Frankreich bei 2.400, Italien 1.700, Spanien 1900 Infektionen pro 100 000 Einwohner. Bei alle der Dramatik dieser Zahlen bin ich weiter überzeugt, dass es sich um ein rasend schnelles Feuer handelt, dass aber auch nach mehreren Wochen verlöschen wird. In dieser Zeit aber wird uns sehr viel Geduld und Nervenstärke abverlangt werden. In den Ländern, die uns ein paar Wochen voraus sind, sieht man die Probleme der Infrastruktur: Der öffentliche Verkehr hat keine Fahrer, die Läden keine Lieferungen, die Kliniken weniger Mitarbeiter.

Ein paar Kilometer weiter, in China möchte ich gerade nicht leben. Dort wird von der Staatsführung des Milliardenlandes die Null Covid-Strategie verfolgt. China möchte unbedingt großartige unbeschwerte olympische Spiele präsentieren, mitten in die Omikronwelle hinein. Bei allem Respekt, ein Virus mit dem Durchsetzungswillen eines Sars-CoV-19 Typ Omikron ist nicht für eine Null Covid Strategie gemacht. Augenblicklich zahlen viele Millionen Chinesen einen sehr hohen Preis in Form eines gnadenlosen totalen Lockdowns mit Massentestungen. Erneut werden wie in der ersten Welle ganze Millionenstädte total abgeriegelt, die Wohnung darf nur zur Testung verlassen werden. Mein unbedarfter Blick aus der weiten Ferne möchte mutmaßen, dass sich hinter der umfassenden Kontrolle und den Lockdowns für ganze Städte auch andere Motive verbergen mögen, als die Gesundheit der Bevölkerung, die in den Ballungszentren aufgrund extremer Luft- und Umweltverschmutzung schon genug zu ertragen hat.
In unseren Ländern gehen zurzeit immer wieder Menschen im Protest gegen Coronamaßnahmen auf die Straße, um gegen Unterdrückung, Coronadiktatur und für Freiheit zu demonstrieren. Dabei scheren sie sich nicht um Verordnungen, Regeln und den Schutz der anderen, treten die Normen des Staates mit den Füßen, werfen mit Flaschen und Pyrotechnik auf Polizisten, tauschen Mordphantasien in Internetforen aus und rufen zum Aufstand auf. Leider lassen sich viele blenden und bieten Publikum und scheinbare Unterstützung für solche Aktionen, die ich für unserer bürgerliche Gesellschaft beschämend empfinde. Das Paradoxe ist, dass es ohne die geforderte Freiheit gar nicht möglich wäre, solche Aktionen zu veranstalten. Man sollte mal einen Chinesen fragen, wie damit in seinem Land umgegangen würde. Leider kann ich kein Chinesisch.

Zurück in unser schönes Land. Wie gesagt, ich trage in mir so ein Gefühl, dass es auf einen Höhepunkt zustrebt. Omikron wird in den nächsten Wochen und Monaten vieles ändern, diese Mutation hat absolut das Potential des ?game changers?. Vielleicht endlich den Wandel von einer bedrohlichen Pandemie in eine Endemie, eine Krankheitserscheinung, mit der wir so gut umgehen können wie mit der Grippe. So meine Hoffnung. Im Negativen bleibt natürlich die Gefahr einer negativen Veränderung des Virus, hin zu mehr Widerstandskraft gegen Umwelteinflüsse oder ein völliges Unterlaufen bislang erreichter Immunität. Aber das glaube ich nicht, ich setze weiterhin auf schöne Ostern, eine Zeit, in der das Schlimmste schon gut hinter uns liegt. Bis dahin wird auch das Wetter wieder besser, matschiger Schnee und eisekalter Wind sind dann wieder in Ferne.

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