Sonntag, 6. Februar 2022
Do., 30. Januar 2022
Dr. Lohse berichtet: die 98. Woche der Pandemie in Münsing
Sonntagmorgen, kalt und windig, es rüttelt an Dach und Fenstern. Die idealen Voraussetzungen für Eiermusik: Lange ist es her in der Kindheit in Hohenschäftlarn, da gab es eine klare Ansage der Eltern an ihre drei Jungs: Samstags wird einer losgeschickt, Semmeln und Brezn (10 bzw 15 Pfennig/Stück) beim Bäcker zu holen, der Duft und das Rascheln der Tüte verbindet sich bis heute mit Samstag. Sonntags hingegen gibt es zum Frühstück Brot mit Butter, Marmelade und Eier. Dazu wird klassische Musik - wunderbare Bachkantaten - gehört. Vater damals mit weißem Hemd und Krawatte, danach gehen wir ja in die Kirche. So begleitet mich absolut untrennbar der Geruch und der Geschmack weich gekochter Eier beim Hören von Bachkantaten ? auch heute.
Es ist ein wunderbarer Kontrapunkt zu dem stürmischen Geschehen vor der Türe.
Der Wetterbericht zeigt Bilder einer sturmgepeitschen Nordsee, die Prognosen sagen einen Meter Neuschnee für die Berge bei starkem Wind voraus. Der Winter holt tief Luft und bläst uns um die Ohren ? draußen und in der Pandemie.

Aber es stresst mich heute nicht, vielleicht ist es die Eiermusik. Gegen die befürchteten Ausfälle bei den niedergelassenen Praxen habe ich im Landkreis Vorkehrungen getroffen, die sich bei den ersten Quarantänebescheiden für die Kollegen bereits bewähren.
Die anderen Ärzte im Landkreis sind mit allen Informationen versorgt, wie eine symptomangepasste Behandlung erfolgen kann, die Kliniken stehen als Reserve wieder etwas entspannter da. Ich habe sogar Zeit, etwas Zeitung zu lesen, heute das SZ Magazin mit einem Artikel über Verbitterung von Lara Fritzsche

Sie schneidet ein Thema an, das mich in vielen Diskussionen berührt, das Thema Spaltung. Waren wir denn bei den Demos der letzten Wochen gespalten? Ich denke schon, aber nicht in der Art wie es aussehen möchte: Meines Erachtens ist die Gesellschaft nicht gespalten in Coronaleugner und Coronarealisten, Impfgegner und Impfbefürworter, Maskenverweigerer und Träger. Die wesentliche Spaltung bezieht sich auf eine andere Dimension.
Die Verbitterung.
Damit meine ich, dass ich von dem Geschehnis derart beeindruckt bin, dass ich emotional hochgradig reagiere, verkrampfe und mich mit Bitternis fülle. Sei es durch Zerbrechen von Träumen ? beruflich, geschäftlich, in der Freizeit. Sei es durch Angst vor dem vielen Unbekannten ? Ansteckung, Schutzmaßnahmen. Sei es durch den Verlust des Gewohnten, der Alltagssicherheit.
Bei den Demos montags verbargen die Umzügler ihre Gesichter nicht, man konnte vieles lesen. Aber Lockerheit oder Freude war selten dabei, eher Verbitterung. Als eine Familie mit einem kleinen Jungen ums Schwankleck kam und die Menschenkette von ?WOR solidarisch? sah, fragte er in die Stille zu seinen Eltern ?Mama, sind die gegen uns??. Eine recht bewegungsfreudige Demonstrantin, die ich schon oft gesehen habe, lief mit verkrampftem Gesicht von Person zu Person und rief ständig ?wir wollen keine Spaltung, wir sind alle Menschen?. Auf der anderen Seite, maskenverhüllt waren auch verbitterte Augen zu lesen.

Diese Verbitterung verbindet viele, ohne dass sie es ahnen. Diese Verbitterung sucht Gründe, findet einen Gegner und erhofft im Bekämpfen des Gegners die Heilung.
Das ist nicht so dramatisch gemeint, wie es sich gerade liest, aber ich setze die Spaltung wirklich an dieser Stelle an:
Auf der einen Seite die Menschen, die unter dem Eindruck der Pandemie verbittern und aus dieser Verkrampfung nicht mehr so richtig herausfinden.
Auf der anderen Seite die Menschen, die trotz Pandemie, Verzichten und Verlusten offen und entwicklungsbereit bleiben und sich ihre positive Kraft erhalten.
Im Laufe der letzten beiden Jahre konnte ich beide Gemütszustände an mir verspüren ? angespannte Verbitterung und kraftvolle Offenheit. Gott sei Dank liegt mir angespannte Verbitterung meist sehr fern, erreicht mich nur, wenn ich sehr erschöpft bin.
Durch das Erleben beider Zustände bin ich aber doch nicht gespalten? Die Spaltung würde erst dann entstehen, wenn ich mich in meiner Verbitterungsstimmung einer Gruppe anschließe, in den anderen Menschen lauter Gegner entdecke und aus dieser Nummer nicht mehr herauskomme. Dann habe ich mir das Prinzip ?wer nicht meiner Meinung ist, ist mein Feind? zu eigen gemacht, weitverbreitet und hochgefährlich.

So hoffe ich, dass es uns gelingt, immer mehr Zeichen zu setzen gegen Verbitterung und Gegnerschaft. Dazu gehört Toleranz, Toleranz auch gegenüber Verbitterten. Vielleicht hat dieser Verbitterte einen triftigen Grund, so hart zu sein? Vielleicht hat er keinen Ort genießen können, an dem es ein geordnetes Sonntagsfrühstück mit sorgsamen Eltern gab? Vielleicht genießt der Verbitterte keinen Respekt in der Welt, wird übersehen?
Gegen Ende des Artikels in der SZ kann man eine Idee herausgreifen, was gegen Verbitterung helfen könnte ? außer die Erkenntnis dass Verbitterung für sich eine Problem darstellt. Aktives Handeln scheint eine Medizin gegen Bitterness zu sein, es schützt vor Ohnmacht.

Der heftige Wind draußen lässt nach, Zeit für einen aktiven fröhlichen Spaziergang, bevor tatsächlich noch Schnee kommt und mir beweist, dass wir wirklich noch mitten im Winter stecken und der Frühling erst in zwei Monaten kommt.

***

... comment