Sonntag, 6. Februar 2022
So., 6. Februar 2022
Dr. Lohse berichtet: die 99. Woche der Pandemie in Münsing
Am Wochenende scheint es öfters zu stürmen, aber ich lasse mich nicht täuschen! Jetzt, seit einer Stunde pfeift es draußen, dass der Dachstuhl knarzt und die Vögel sich wegducken. Aber gestern und heute Vormittag lugt der Frühling hervor, schickt einen ersten Star aus dem Süden, lockt die Schneeglöckchen und die allerersten Krokusse aus den Tiefen der Erde und lässt die Haseln goldgelb strahlen. Gestern nutzen wir dies zu einem langen Spaziergang und heute fange ich schnell noch einen Fisch zum Mittagessen. Da kann es jetzt ruhig wieder brausen und tosen.
In der Welt tost und droht es, die Zeitungen berichten allgemeines Säbelrasseln aus vielen Winkeln der Erde ? als sei eine Pandemie für die Welt nicht genug. Die alte politische Weisheit, ?wenn die eigene Macht im Inneren bedroht ist, suche einen äußeren Feind und gehe in die Konfrontation? scheint den politischen Verantwortlichen im Osten, fernen Osten und Balkan wieder in das Gedächtnis gekommen zu sein. Als Zeitsoldat in Zeiten des kalten Krieges ist mir mit Blick in den Osten sehr unwohl, ich hoffe um die Kraft der Vernunft.

In Sachen Pandemie entdecke ich seit kurzem wieder lächelnde Gesichter. Die Menschen haben gelernt oft sehr sympathisch mit den Augen zu lächeln, da der Mund meist hinter einer Maske verborgen ist. Viele werden wie ich von dem Optimismus getragen, dass es Ostern weitaus besser, vielleicht gut sein wird.

Die Omikronwelle bringt eine unglaubliche Zahl von Infektionen hervor, aktuell fast 3000 Menschen im Landkreis. Ganz vorsichtig aber gelange ich zu der Annahme, dass die Infektionen durch Omikron zunehmend anderen Viruserkrankungen ähneln und etwas milder werden. Die größte Ähnlichkeit sehe ich zum Pfeifferschen Drüsenfieber, hervorgerufen durch das Epstein-Barr-Virus. Für Kinder eine eher harmlose Kinderkrankheit, für Erwachsene meist eine kurze heftigere Erkrankung mit grippalen Erscheinungen, für einige eine lange und sehr mühselige Angelegenheit mit Müdigkeit, Kraftverlust und Schwitzen. Organbeteiligungen (Herz) und lange Verläufe bei jungen Erwachsenen sind nicht selten. Einzig die Lymphknotenschwellung und der Hals sehen ganz anders aus. Der riesige Unterschied: 96 % aller Erwachsenen Deutschlands hatten bereits das Pfeiffersche Drüsenfieber in der Kindheit, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Dadurch besteht eine Grundimmunität, die Krankheit ist ?endemisch? geworden, eine Kinderkrankheit.
Mit dem Coronavirus aber muss das Immunsystem erst vertraut werden, sei es durch die Impfung oder die Infektion. Deshalb kommen so unendlich viele Infizierte gleichzeitig. Auch wenn nur einer von hundert ernst erkrankt, sind es immer noch genug. Und es fehlt uns noch so viel Wissen:
Wie oft kann man Corona bekommen? Wird es immer schlimmer (so war die Befürchtung vor einem Jahr) oder von Infekt zu Infekt immer leichter? Machen auch die leichten Infekte Spätschäden oder Long Covid, sind wiederholte Infekte gefährlich für unsere inneren Organe? Leider sehe ich eine ganze Anzahl meist junger Menschen, die erst im Oktober mit der Deltamutation erkrankt waren und nun schon wieder an der Omikronmutation kranken.
Man müsste sich vervielfältigen, viel Zeit und Mitstreiter haben, dann würde ich mich liebend gerne in diese Fragen stürzen, wohl in dem Wissen, dass jede Antwort wieder drei neue Fragen aufwirft.
In aller Bescheidenheit haben wir ? der Landkreis, ein Professor der TU München und ich ? eine Untersuchung angestoßen: Wir fragen alle ehemals positiv Getesteten des Landkreises (vom Anfang der Pandemie bis zum 30.November 2021) wie es ihnen heute geht. 9200 Bürger, 9200 Fragebögen, Anschreiben und Briefumschläge. Am Dienstag war Pressekonferenz, in der wir Rede und Antwort für die interessierten Journalisten standen. Unser Ansatz ist die Frage nach dem Befinden (?wie geht es Ihnen??), nicht nach dem medizinischen Befund (?sind in der Lunge Veränderungen nachweisbar??). Es zieht weite Kreise, nun gelte ich plötzlich als Spezialist für Long Covid, sogar Patienten aus Nordrhein-Westphalen rufen an, die Deutsche Welle bittet um ein Interview. Schon etwas schräg.

Während ich als Hausarzt nur etwas neugierig bin und von der Alltagsbeobachtung in systematische Forschung zu gehen versuche, bekämpfen sich die Virologen und Epidemiologen und streiten sich in aller Öffentlichkeit. Wo vorher vorsichtige sachliche Wissenschaft die Diskussion beherrschte, wandeln sich Virologen (zumindest einige) zu presseverliebten Darstellern, die es genießen, befragt zu werden und bedeutsam geworden zu sein. Ich kann das gut verstehen, denn so ein Virologe, schlimmer noch ein Epidemiologe ist eigentlich nicht der Star der medizinischen Fakultät. Eher ein Kellergeist, der irgendetwas im Keller züchtet, Zahlen und Statistiken wälzt und sich mit Computerprogrammen gut auskennt. In Pandemiezeiten sind Virologen gesuchte Gäste in Talkshows. Ein Epidemiologe wird sogar Bundesgesundheitsminister, so sehr stellt dieses kleine Coronavirus die Welt auf den Kopf. Wenn nun aber die Pandemie abebbt, wer fragt sie dann noch? Müssen sie dann wieder in ihre Institute, aus dem Rampenlicht heraus?
Für meinen Teil freue ich mich auf den Tag, an dem ich ?nur noch? Münsinger Hausarzt bin.
Es wird nach dem Omikronsturm wieder ruhiger. Sicher ist es noch zu früh, Entwarnung zu geben, aber meines Erachtens stellen diese nächsten Wochen den Höhepunkt, quasi den Wintersturm vor dem Frühling dar. Danach wird sich eine ruhigere Normalität entwickeln, zumindest in epidemiologischer, pandemischer Hinsicht.

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