Samstag, 21. August 2021
Mi., 4. August 2021
Dr. Lohse berichtet: Die 73. Und bald 74. Woche der Pandemie in Münsing
Das weiße Huhn, die heimliche Freude meines Gartens ist nicht mehr. Etwas keck dachte sich das Federtier, es könnte den schönen Abend noch genießen, als ein Hermelin des Weges kam, die Gelegenheit erkannte und das arme Tier fachtierisch mit einem Biss in den Hals in den Hühnerhimmel beförderte. Zwar kam die nette hühnerhaltende Nachbarin gerade noch hinzu, um den Mörder zu vertreiben, aber trotz sofort eingeleiteter Wiederbelebungsversuche muss ich betrübt feststellen: Das weiße Huhn ist nicht mehr.

Anfang August ist Geburtstagsmarathon: Eine Tochter ist gerade 30 geworden, ein Freund 60, mein Vater wird am Sonntag 90.
Bei allen ?Events? kreist die Frage in diesem Jahr um die Verantwortlichen, wie verantwortungsvoll zu feiern ist? Zum 30. unserer Tochter ist es einfach, da der Kreis der Gäste berechenbar ist und bis auf die Kinder alle geimpft sind. Bei unserem Freund zum 60. wird ein großes Fest in zwei Etappen gefeiert. Hier ist es eine eingeforderte Selbstverständlichkeit, dass die, die nicht geimpft oder genesen sind, sich am Eingang mit den bereitgestellten Schnelltests selbst testen. Bei dem 90. Geburtstag meines Vaters feiern wir in vielen kleinen Portionen, damit der Senior Zeit für jeden Gast hat. Hier ist ebenfalls außer den Kindern jeder geimpft. Und vor allem aber sind meine Eltern geimpft.

Wo ich vor zwei Jahren vor einer Einladung noch kalkulierte, wer wohl was trinken möchte, wer eher vegetarisch isst oder keinen Fisch mag, da kommt völlig selbstverständlich nun das ?Hygienekonzept? dazu. Diese Überlegungen leiten mich leiten mich zurück in schwarze Stunden meiner Gymnasialzeit, direkt in den Lateinunterricht.

Cavere - caveo ? Cavi ? cautum > sich vorsehen, hüten in Acht nehmen (E-Konjugation)
Cavare ? cavo ? cavavi ? cavatum > aushöhlen, hohl machen (A-Konjugation)

Cavere kennen viele von dem antiken Mosaik aus Pompeji mit dem Hund an der Kette und dem bis heute gebräuchlichen CAVE CANEM - hüte Dich vor dem Hund (Imperativ Singular).
Im medizinischen Lateinkauderwelsch steht oft CAVE Penicillinallergie auf der Akte eines Patienten ? Obacht, der hat eine Penicillinallergie!

Cavare habe ich neu entdeckt, wobei Cavum ? die Höhle durchaus im Medizinlatein gebräuchlich ist. Aber mit den Soldaten des Hadrian ist dieses Wort Cavare ? aushöhlen nach Großbritannien gewandert und findet sein vorläufiges Ende im englischen Wort Cave (sprich cäiv) ? Höhle.

Und nun lese ich Artikel über das Cave- Syndrom. Egal, von welcher Seite man sich annähert, von der E- oder A-Konjugation, also von Hüte dich? oder der Höhle ? das Wort Cave mit seinen beiden Ursprüngen passt ungemein gut. Ich beobachte nämlich an mir selbst und an fast allen Menschen eine Veränderung Richtung Cave-Syndrom: Die einen setzen den notwendig gewesenen Lockdown, in dem sie sich erwartungsgemäß in die Höhle der Wohnung zurückgezogen hatten, fort und verlassen die Wohnung nicht mehr. Die anderen wittern hinter jeder Ecke einen mehr oder weniger angeleinten Hund und trauen sich nicht mehr ungezwungen auf die Straße.
Bei manchen Personen hat der Rückzug in die Höhle wirklich schwere psychische Spuren hinterlassen, bei jung und alt. Sie spüren schon länger keine Angst mehr, sondern Leere. Der Antrieb, die Freude an Initiative und Aktivität ist gestorben. Das Verlassen der Höhle erscheint sinnlos und gefährlich, wird nur noch zur Erfüllung dringlicher Bedürfnisse (Einkaufen) durchgeführt. Die allgemeine Lebensangst der modernen Gesellschaft und die Lieferando-Mentalität, beides schon vor Corona vorhanden, verstärkt sich immens und wird zur umfassenden Passivität. Homeoffice wandelt sich mehr und mehr zum freiwilligen Gefängnis in der Höhle. Hier kann das Cave-Syndrom das Gesicht einer Depression annehmen.
Oder das andere Cave (E-Konjugation, das Cave vom Hund): Bei allem was unternommen werden will, ploppt der Fingerzeig des Cave auf ? Vorsicht!! Auch hier stirbt Unbefangenheit und Spontaneität, also eine wichtige Lebensdimension. Keine Angst, ich blase kein Trübsal, sondern mache bewusst, was unbewusst mit uns passiert. Diese Entwicklung ist nämlich nicht zwangsläufig, sondern sie ist nur gefährlich, wenn man diese Tendenz unreflektiert hinnimmt und sich nicht wehrt. Das aber können wir tun.
Die Vorsicht war nötig, Behutsamkeit ist ein wichtiges Element unseres Überlebens. Aber wir sind instinktiv mit einem inneren Radar ausgerüstet, das uns schützt und rettet- ohne dass wir es merken. Manchmal aber müssen wir unser Radar nach Krisen wieder neu justieren. Nun ist es an uns, dass wir neu lernen, Situationen richtig einzuschätzen, auf ?Sicherheit? zu prüfen und uns dann zu entspannen. Wenn wir eine ungute Situation wittern, so sollten wir bewusst einen Bogen darum machen, wie um einen Hund, der an einer langen Leine liegt. Wenn aber eine Einladung zum 60. Geburtstag kommt, bei der klar ist, dass die Gastgeber verantwortungsvoll handelt und versucht, uns zu schützen, dann kann ich dort auch sehr entspannt ein Glas Wein trinken und über Geschichten aus dem Leben des Jubilars palavern. Raus aus der Höhle ? mit offenen Augen und angemessener, aber nicht übertriebener Vorsicht.
Hätte das mit der Höhle doch nur das weiße Huhn gelesen. Höhle ist ja nicht schlecht, vor allem wenn es dunkel wird. Vielleicht findet ja unsere Nachbarin wieder ein anderes weißes Huhn, das mich gelegentlich besucht.

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