Donnerstag, 2. September 2021
So., 15. August 2021
Dr. Lohse berichtet: Die 75. Woche der Pandemie in Münsing
Als Belohnung für das frühe Aufstehen wird mir ein wunderschönes Himmelsgleissen mit gold, orange, weiß und blau geboten. Wäre ich eine halbe Stunde später aufgestanden, hätte ich nur das wahrgenommen, was sich nun vor meinen Augen entwickelt: Grau-schwarze gewittrig dräuende Wolken schieben sich vor den Peissenberg und erreichen schon bald die Zugspitze, es grollt.
Der Blick in diese Richtung hinter die Wolken allerdings erreicht schon fast das Mittelmeer, wendet sich nach rechts nach Frankreich um Toulon mit seinem Hafen zu erreichen. Dort wird uns am Sonntag hoffentlich eine Fähre aufnehmen und über das Mittelmeer in den Urlaub tragen. Zeit wird es.

Erschöpfung macht sich breit in der Praxis, seit März haben wir uns durch personelle Engpässe gewunden, beladen mit einem Mehr an Aufgaben: Haben 1500 Impfungen an den Arm gebracht, viele viele Testungen gemacht und versucht unsere ganz normale hausärztliche Versorgung mit Anstand und Qualität zu halten.

Bei all der Dynamik um Corona schleicht sich ganz leise und zähfließend ein neuartiges Erschöpfungsbild in das Bewusstsein: Das Post-Covid-Syndrom.

Dies ist der Textanfang vom 15.8., inzwischen ist es der 25.8. geworden, wie so oft unterbrach ein Telefonat das Schreiben.

Wir sitzen nicht im Urlaub in fernen Ländern, die Fähre musste sich ohne uns den Weg nach Mallorca suchen. In dieser Stunde wird mein neunzigjähriger Vater an einem sehr schmerzhaften Leistenbruch operiert. Alles konservativen Behandlungsversuche fruchteten nicht, die Entscheidung zur Operation war schwer, das Alltagsleiden mit den Schmerzen aber nicht zu ertragen. Wegen der Demenzerkrankung begleitet unsere Mutter ihren Mann ? das hätte sie sich vor über sechzig Jahren zur Hochzeit auch nicht gedacht.
Da die Infektionszahlen wieder steil ansteigen, steigt auch die Anspannung allerorts steil.
Unsere Tochter, die in einem Impfzentrum jobbt, musste jüngst Überstunden machen, da die Mannschaften ausgedünnt werden, der Wunsch nach einer erstmaligen Impfung aber wieder stärker wird.
In der Klinik, die ich gerade als Besucher ?von der anderen Seite? erlebe, drückt dieses Thema ? Covid-19, geimpft, getestet ? allen Vorgängen seinen Stempel auf. Besuche sind streng reglementiert, trotz Impfung muss ich stets einen Test vorweisen, darf nicht zu lange verweilen. Die Cafeteria ist verwaist, zum Hinsetzen ist Registrierung am Kiosk zwingend. Die Pandemie zeigt ihr Auswirkungen allerorts.

Die Impfgegner bemerken die steigende Spannung und sind wieder aufgewacht. Die Impfkampagne wird von mir im Landkreis gesteuert bewusst von den Impfzentren getragen und aus den Praxen herausgenommen. Dadurch sind Urlaube der Praxen möglich und es wird nicht durch die vielen Impfstationen restlicher Impfstoff verworfen. Aber nun donnert die entsetzte Mitteilung durch die Presse: 23 000 Ärzte impfen nicht mehr!
Gelehrige Schlagzeiler blättern unverzüglich in der Anleitung für populistische Meinungsmache:
Man nehme eine beweisbare Tatsache und vermenge diese mit einer vollkommen schwachsinnigen Zutat, rühre Zeitungstinte hinzu und gieße dies in ein Format, das dem der populären Bildungszeitschrift entspricht.
So hängt jetzt die Impfgegnerschlagzeile im Bildungsformat im Lande ?wieviel Impftote wollt ihr noch ? 23 000 Ärzte steigen aus?.

Die Partylust wird verwässert, die Regeln fangen wieder an, weh zu tun: Die Bundesinzidenz ist über 50, im Landkreis bei 44,6 ? heute 19 neue Fälle. Ab einer Landkreisinzidenz von 50 dürfen sich wieder nur 10 Personen aus drei Haushalten treffen. Nun das emotionalisierende Element: Es zählen nur die Ungeimpften.
Dem Wahlkampf und den sinkenden Werten der unionalen Regierungsparteien sei Dank: Da unsere Politiker keine Spaßbremsen sein möchten, werden diese Regeln vor der Bundestagswahl sicher noch gewaltig aufgeweicht, egal wie viele Tote uns das wieder beschert.

Ein Anruf der ältesten Tochter, als Ärztin in die Klinik hervorragend vernetzt:
Vater ist gut und problemlos in die Narkose gerutscht, die Operation hat nun begonnen. Das familiäre Netzwerk funktioniert. Da werde ich nun rüber in die Klinik fahren und hoffen, dass alles gut weitergeht.

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