Samstag, 12. März 2022
So., 20. Februar 2022
Dr. Lohse berichtet: Die 100. Und 101. Woche der Pandemie in Münsing
Und schon wieder stürmt es, ein Tief jagt das andere. Wo im Norden die See gegen die Gestade peitscht und Wangerooge den Strand entrissen hat, entdecke ich im Süden wieder das nette Wort ?Sturmwichteln?. Der Sturm trägt so manches davon und stellt es dem nächsten in den Garten: Hüte, Planen, alles, was man halt so dringend braucht. Es lohnt ein Gang durch den blankgeblasenen Garten.
Der Omikronwintersturm hat vermutlich seinen Höhepunkt erreicht, viele Menschen sind gerade krank oder genesen, anderen steht ihre Infektion noch bevor. Die Pandemie ist sehr real, omnipräsent. Gestern erst kam eine Mitarbeiterin kurz vor Praxisschluss, um aufgeregt mitzuteilen, dass ihre Tochter, bei der sie tags zuvor eine lange Mittagspause gemacht hatte, nun ebenfalls positiv sei. Trotz Impfung kann diese Mitarbeiter nun angesteckt sein, wenngleich sie vor schwerer Erkrankung geschützt ist. Zwar suchen wir uns in der Praxis durch kontinuierliches Maskentragen vor dieser gegenseitigen Ansteckung zu schützen, aber durch diese Hintertüren kann es uns jederzeit erwischen.
Der Arbeitsalltag ist geprägt von Testungen, Krankschreibungen wegen der Infekte, vielen betreuenden Telefonaten der Erkrankten, es sind lange und erschöpfende Arbeitstage.
In der Rolle als ärztlicher Koordinator kommen unverhoffte neue Themen dazu:
Einige inzwischen auch befreundete Mitstreiter sind nach zwei Jahren vollkommen erschöpft, dünnhäutig und reizbar, wodurch Besprechungen manchmal spannungsreich werden können. Meinem Klosteraufenthalt sei Dank bin ich zwar angestrengt und immer wieder müde, aber psychisch stabil und meist gelassen.
Eine andere neue Rolle ist mir unverhofft durch die Idee der Long-Covid-Studie (COVITÖLZ) zugeflogen. Ich bin Fachmann und Spezialist für Long Covid, so glaubt die mediale Welt. Der bayerische Rundfunk kommt zum Drehen und macht in unserer Praxis mit einer Patientin einen Beitrag für das Fernsehen. Dieser Beitrag ist zwar wirklich nett geworden, aber es ist seltsam, sich und seine Patienten im bayerischen Fernsehen zu entdecken. Die Deutsche Welle aus Berlin bittet um ein Interview. Misstrauisch versuche ich etwas über die beteiligten Personen herauszufinden und entdecke mit Staunen, dass es sich um renommierte Journalisten dieses internationalen Senders handelt und erlebe ein onlinegestütztes Interview. Der Beitrag soll dieser Tage kommen, vermutlich werde ich 5 Sekunden als Fachmann der ersten Front zum Thema Long/Post Covid über die internationalen Bildschirme huschen.
Natürlich sind solche Anfragen Anlass, sich vorzubereiten und die eigene Position zu definieren, also zu überlegen, was ich eigentlich zu sagen habe. Bei dieser inneren Recherche entdecke ich, dass ich im Gegensatz zu vielen Schwarzmalern aktuell ein gnadenloser Optimist in Sachen Pandemie bin. Wo ich vor einem halben Jahr zum Impfen gemahnt hatte (?der Sommer entscheidet über den Winter!?) und allseits als Kassandra belächelt worden war, heben jetzt viele mahnend den Lauterbachschen Zeigefinger und betonen, wie wichtig JETZT die Impfung sei. Kommende Mutationen und weitere furchtbare Wellen stünden uns bevor, schwarze Szenarien werden gemalt, so dass jeder vernunftbegabte Bundesbürger dazu in Opposition gehen muss. Ein weiteres pandemisches Gespenst ist Long Covid, das neue Unheimliche. Kurz zur Definition: Laut den neuesten Leitlinien nennt man ?Long Covid? das Krankheitsbild, wenn Symptome länger als 4 Wochen andauern. ?Post Covid? wird das Ganze genannt, wenn es länger als 12 Monate geht. Hat zwar keine zwingende Logik, wird auch von jedem Fachmann durcheinander gebracht, aber gesagt sein will es einmal.

Zu beiden Gespenstern ? der pandemischen Zukunft und der Post Covid Thematik ? schließe ich mich nicht der überwiegend verbreiteten Fachmeinung an. Ich bleibe bei meinem Optimismus, dass es ab Ostern wirklich bezüglich Pandemie sehr entspannt sein wird. Wir werden in den darauffolgenden Monaten ohne Masken miteinander feiern können ? wenn wir es nicht verlernt haben. Für die nähere Zukunft sind natürlich neue Mutationen zu erwarten, erneut wird der Sommer über die Dramatik des Winters entscheiden, erneut werde ich vergeblich im Sommer zum Impfen aufrufen. Jetzige Impfungen machen nur für die echten Risikogruppen Sinn ? und für Ungeimpfte. Erst im Sommer müssen wir uns erneut wappnen. Aber schrittweise wird es in die Normalität übergehen und wenn jeder mehrfach durch Impfung oder Infektion am Virus trainieren konnte, wird die Bedrohung gering.

Das zweite Gespenst ? Long/Post Covid - trifft manche hart. Auch in meiner Praxis begleite ich Patienten mit dieser hartnäckigen Problematik. Aber es sind niemals die behaupteten zehn Prozent, es ist auch nichts, dass sich Monate nach einer Infektion regelhaft über einen Menschen legt. Der Journalist der deutschen Welle erzählte mir, dass er um die Jahreswende an Corona erkrankte, es ihm zehn Tage nicht gut ging, er dann aber wieder vollständig gesundete. Jetzt lebt er in der realen Angst im Gefolge dieser Erkrankung von einem Post Covid Syndrom befallen zu werden ? nach Ausheilung und Wiedererstarkung. Hier zeigt sich ein fataler Fehler vieler Fachleute: Sehr seltene Einzelfälle werden als Maßstab des Wahrscheinlichen genommen und darum die allgemeine Wahrheit definiert. Es ist aber andersherum. Ich bin sehr gespannt, wie sich die Zahlen unserer COVITÖLZ-Studie entwickeln werden, vielleicht liege ich ja auch falsch?
Bei allem Optimismus darf ich natürlich nicht vergessen, was gerade los ist: Wir sind mitten im Omikronsturm, Inzidenz über 1600 Infizierte / 100 000 Einwohner pro Woche, täglich neue Fälle. Aber der Blick in den Frühling, der ist es, der mich so optimistisch und froh macht.

***

... comment