Dienstag, 8. September 2020
Di., 8. September
Dr. Lohse berichtet – die 26. Woche der Pandemie in Münsing Vor einem halben Jahr kam die Pandemie. Kürzlich meinte ein Politiker, ich glaube es war Herr Steinmeier, sinngemäß „wir haben den Corona-Ausnahmezustand gut gemeistert, dann werden wir nun auch den Corona-Alltag hinbekommen“. Der Sinn dieses Satzes arbeitet etwas in mir nach, ich finde ihn bei längerem Betrachten echt gut.
Sehr gut kann ich mich an den Schrecken mit den dramatischen Bildern aus den Nachbarländern erinnern. Unsere Töchter waren als Ärztinnen involviert, in der Klinik entweder als Covid-19 Stationsärztin oder als Nachrücker in Krisenplänen, und wurde schließlich wegen Schwangerschaft aus dem Medizinbetrieb herausgenommen. Der Krisenfall. Krass. Unter diesem Eindruck begann ich auch, dieses Wochentagebuch zu schreiben.
Und jetzt befinden wir uns auf der Suche nach dem befürchteten Corona-Alltag, das heißt, einem umsichtigen verantwortungsvollen Verhalten ohne dramatische Bilder. Unsere Älteste zitiert immer wieder einen angloamerikanischen Satz (die sind ja etwas enthemmter in ihren Ausdrücken): „there is no sex in prevention“. In langweiligem Deutsch könnte man auch sagen: Vorsorge ist doof und macht keine Helden. Zu diesem Alltag gehören die vielen vielen Bedächtigen, die wenigen sehr Ängstlichen, die paar völligen Verleugner und die beträchtliche Zahl der Verunsicherten, natürlich auch die Wissengschaftler und die Rechthaber. Das Wissen um die Erkrankung wächst, damit natürlich auch die Widersprüche.
Hier bei uns tragen gerade viele den Samen neuer Infektionen wieder ins Land, junge erholte Reiserückkehrer. Wenn es schlecht läuft, vermehrt es sich wieder massiv, wenn es gut läuft, geht diese Saat nicht auf. Wir werden sehen – so etwa in vier Wochen.

Meine Familie behauptet immer wieder, ich sei verspielt. Tatsächlich spiele ich zur Zeit mit Duftstoffen. Immer wieder hört man von Geruchsstörungen durch eine Covid-19 Infektion. Von dem Holzhausener Cluster, also der Gruppe meist junger Menschen, die sich im März angesteckt hatten und zum Teil erkrankt waren, hat ein Teil Störungen in diesem Bereich. Eine längere Recherche der erreichbaren Literatur ergibt keine Behandlungsempfehlungen, und die Zahlen zu diesen Nebensymptomen sind unklar.
Also fange ich selber an, tätig zu werden. Da ich lange in der Neurologie tätig war, richte ich mir ein kleines Diagnostikset her und habe angefangen, zu testen: Vanille, Kaffee, Zimt und Pfeffer, abgefüllt in kleinen Dosen eignen sich super, da sie die Geruchsbahnen der oberen Atemwege testen. Süß und sauer sowie salzig läuft über Zungennerven, die werden durch den Covid-19 Infekt wohl nicht so betroffen. Erste Tests sind irritierend: Auch bei nur ganz leichtem Krankheitsverlauf finde ich oft deutliche Defizite. Die Theorie ist, dass das Virus auch Nervengeflechte zu schädigen vermag. Die Geruchsnerven des oberen Nasenraumes, die für diese Störungen verantwortlich sein können, kommen als ganz feine Fasern von der Basis des Stirnhirnes (vom bulbus olfactorius an der Basis des Frontalhirnes) durch einen löchrigen Bereich der Schädelbasis (lamina cribrosa) zu ihren Messgeräten, den Geschmackssensoren in der Nasenschleimhaut. Und hier kann ich teils massive Ausfälle messen. Die Menschen sind vorher alle kerngesund gewesen, die Störungen sind teils nur irritierend, teils aber auch berufsgefährdend (Koch, Ärztin).
Nachdem eine Nervenschädigung vorzuliegen scheint, fange ich an, dies mit Mitteln gegen Nervenschädigung aus der Welt der Neurologie zu behandeln. Tatsächlich ist in einem ersten Fall eine völlige Besserung eingetreten, dass es mir fast etwas unheimlich ist. Bin gespannt, wie es da weitergeht. Das nächste Phänomen, das mir auffällt, ist eine psychische Veränderung, eine Veränderung des inneren Kraftflusses: Wo der Körper sich erholt hat, kommt der innere Pilot nicht mehr voll in die Reihe. Geringe Belastungen benötigen lange Erholung, die Initiative liegt darnieder, bei wieder anderen ist die Frustrationstoleranz deutlich verringert. Als Psychiater könnte ich ja auch annehmen, dass das alles ein Psychotrauma sei, ausgelöst durch den Schrecken einer Erkrankung. Aber das ist in dieser Häufung und in dieser speziellen Ausführung Unfug, es handelt sich tatsächlich um ein diskretes neuropsychiatrisches Phänomen. Der Ursprung dieses Komplexes könnte eine Störung im Frontalhirn, dem Stirnhirn, liegen, direkt über dem bulbus olfactorius, hochgeleitet durch die lamina cribrosa.
Nachdem ich aber nur ein Beobachter bin, der kleine verspielte Diagnoseinstrumente entwickelt, wird es noch eine Zeit dauern, bis diese Beobachtung in Studien zusammengefasst und einer breiteren Diskussion zugeführt werden. Ich werde auf jeden Fall diese Beobachtungen systematisch fortführen.

Alleine die Vorstellung, dass ein wunderbares Essen auf dem Tisch steht, dampft und verführerisch aussieht – und ich rieche oder schmecke es nicht – motiviert mich, mich weiter gut zu schützen und meine Beobachtungen fortzuführen.

***

... comment