Mittwoch, 10. November 2021
Fr., 1. Nov. 2021
Dr. Lohse berichtet: die 84. Und 85. Woche der Pandemie in Münsing
Der Kirtamarkt und der jagdgenossenschaftliche Frühschoppen sind richtig gut gelaufen, wobei es uns das Wetter leicht gemacht hat. Bei strahlendem Sonnenschein im Freien zusammensitzen, ratschen, a bisserl was essen oder trinken, das tat wieder richtig gut. Die Jugend des Nachbarortes veranstaltete zeitgleich ein Stadlfest mit über 600 Gästen, hoffentlich war auch hier die Vorsicht stark genug.

Leider ist dieses schon wieder Vergangenheit, leider hat sich der Wind der Pandemie gedreht. Erst in einigen Landkreisen, dann flächendeckend von Traunstein bis zum Allgäu an den Alpen entlang rasen die Inzidenzwerte nach oben. Bayern hat so viele Erkrankte, wie noch nie in der gesamten Pandemie.
Nur nicht in Bad Tölz-Wolfratshausen. Hier sinken die offiziellen Zahlen. Nach längerem Nachbohren im Internet komme ich bei den offiziellen Zahlen vom RKI auch auf den Grund: Die Übermittlung der Daten vom Landratsamt an das RKI hakt, da klappt seit sechs Tagen die EDV nicht. Allein in unserer Praxis erkranken mehr Patienten, als für den ganzen Landkreis gemeldet werden. Aber jetzt ist langes Wochenende, es ist kein Verantwortlicher zu finden.
Mich schmerzt das, da es für den Bürger so wirkt, als sei hier alles auf dem Weg zur Entspannung ? aber das genaue Gegenteil ist der Fall.

In der Praxis wird es jetzt hart: Täglich viele Patienten mit Infekten, mindestens einmal pro Woche 1-2 Patienten mit schweren Covid-19 Infekten. Tränen in Augen derer, die vollkommen von der Nichtexistenz jeglicher Bedrohung durch Corona überzeugt waren und nun atemringend und hustend vor den CT-Bildern der befallenen Lunge stehen und Angst haben, zu sterben. Durch sofortige Behandlung mit all dem, was wir inzwischen gelernt haben - und ein bisschen Erfahrung haben wir inzwischen gesammelt - schaffen wir es in den letzten beiden Wochen, Klinikeinweisungen zu verhindern und diese Verläufe trotz Organbefall zu stabilisieren.
Die Kliniken, die kippen uns völlig ab: In der Landeshauptstadt München stehen keine Intensivstationen mehr mit freien Betten zur Verfügung. Unser Verbund (die Landkreise Tölz, Garmisch und Weilheim) hat nur noch sehr geringe freie Intensivkapazitäten und kann nur noch eigene Patienten versorgen. Vorbei die Zeit, als wir anderen anderen Landkreisen helfen konnten. Oft steht abends nur noch ein einziges freies Bett für Intensivbehandlung zur Verfügung.
Die Gründe sind vielschichtig: An erster Stelle ist der Personalmangel zu nennen. Viele Menschen in der Intensivmedizin sind durch die Belastung der letzten eineinhalb Jahre ausgebrannt, krank oder haben sich umorientiert. Es stehen auf fast jeder Intensivstationen Betten ohne Personal. Hier schnell mal jemanden einzuteilen, der aus einem anderen Bereich kommt, ist angesichts der hochspeziellen Kenntnisse nur sehr eingeschränkt möglich.
Ein weiterer Punkt ist das Lebensalter der Patienten. In einer der Landkreiskliniken wird seit weit über vier Wochen ein 27-jähriger ungeimpfter vordem gesunder Mann beatmet. Wäre er 50 oder 60 Jahre älter, so hätte er nicht bis hierher überlebt. So aber hatte er ein junges gesundes Herz, hatte eine junge gesunde Lunge und andere Organe. Zwar darf man hoffen und ihm von ganzen Herzen wünschen, dass er den sehr langen Kampf übersteht, aber die Behandlungseinheit ist sehr lange für diesen einen Menschen belegt. Auf den Intensivstationen sind die Patienten mit Covid-19 insgesamt deutlich jünger geworden.
Auch auf Normalstationen sind wieder immer mehr Covid-19 Patienten zu finden, die Kliniken versuchen sich anzupassen. Die wahre Gefahr aber liegt darin, dass wir - eines der reichsten und modernsten Länder - nur noch wenig Luft nach oben haben, Schwerkranke Covid-19 Patienten zu versorgen.
Zurück in den Praxisalltag: Als Codo für den Landkreis beginne ich eine Umorientierung für alle Arztpraxen. Das eigentlich sehr sinnvolle Impfen durch die Hausärzte verlagere ich zunehmend zurück in das zentrale Impfzentrum. Heute am Samstag schoben wir Sonderschicht und impften 50 Patienten in der Praxis. Unter der Woche geht das aufgrund der vielen Infektpatienten schon nicht mehr. Da gerade im Südlandkreis die Praxen noch viel mehr unter Druck stehen, versuche ich alles, was nicht unbedingt sein muss, aus den Praxen herauszuziehen. Also kommt das Impfen wieder bevorzugt in das Impfzentrum. Wir haben für unsere Praxis zwar noch den nächsten Samstag und übernächsten Freitag mit je 50 Impfungen geplant, werden aber dann das Impfen nicht mehr schaffen, wenn die Welle uns so überrollt, wie es gerade aussieht.
Außerdem bin ich ab Mitte November für drei Wochen in meiner ?Reha? im Sauerland. Ich habe jetzt schon ein schlechtes Gewissen, dass ich gerade mitten in der vierten Welle in eine Auszeit gehe. Aber wenn ich warte, bis die Pandemie endgültig vorbei ist, stehe ich vielleicht schon kurz vor der Rente? Eigentlich ist auch alles geplant, die Kolleginnen hatten jetzt noch einmal eine Woche frei, die Termine sind stark ausgedünnt, so dass genug Platz für Infektpatienten bliebe. Als Kompromiss werde ich das Handy entgegen ursprünglichen Vorsätzen mitnehmen.

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