Mittwoch, 10. November 2021
Mi., 10. Nov. 2021
"Wir bewegen uns sehenden Auges in einen kritischen Grenzbereich" so lautet die Überschrift, die ich soeben bei SZ-online gelesen habe. Zunächst dachte ich, es ginge um den Klimawandel. Aber es geht um Corona. Die bunte Karte, bei deren Anblick man hofft, dass der eigene Landkreis möglichst hellgelb oder am besten gleich grau ist, zeigt für meine alte Heimat Berchtesgaden, nach deren Wohlergehen ich immer als erstes schaue, heute eine Inzidenz von 822 an. Finde ich viel, nachdem man im Sommer schon mal bei unter 20 war. Als ich weiter über die Karte surfe, lande ich beim Landkreis Rottal/Inn, bei dem satte 1.104 aufpoppen, die den Berchtesgadner Wert schon fast wieder harmlos erscheinen lassen.



Wenn man jedoch sieht, dass unser Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen auch schon bei nie dagewesenen 791 liegt, könnte einem doch bange werden.
In der Qualitätspresse ist zu lesen, dass im Rekord-Landkreis Rottal/Inn auch eine bundesweit negativrekordverdächtige Impfquote besteht, nämlich knapp über 50 Prozent. Ein gewisser Zusammenhang scheint, konservativ formuliert, nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein.

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Mi., 10. Nov. 2021
Dr. Lohse berichtet: die 86. Woche der Pandemie in Münsing
Es wird Abend, scherenschnittartig heben sich die blauen Berge für den herbstlichen Abendhimmel, der Frost wird in ein paar Stunden die Wiesen weiß überziehen und morgen steigen nach dem Sonnenaufgang die Nebel - fast zu kitschig, um wahr zu sein. Aber dieses gewohnte Bild strahlt Ruhe aus.



In diesen Tagen hat sich wirklich in Sachen Pandemie wieder vieles gedreht: Nachdem über das verlängerte Wochenende niemand direkt erreichbar schien, gelingt es dann doch, die mit im Boot sitzenden Ärzte der Krankenhauskoordination zu erreichen. Dann geht es schnell: Am ersten Tag nach dem langen Wochenende kommt abends eine Krisensitzung im Landratsamt zustande, bei der unter Wahrung aller Gesichter das Ausmaß der Fehlentwicklung mühsam auf den Tisch gehoben wird. Landrat, Geschäftsleitung, Katastrophenschutz, Jurist und das Gesundheitsamt hören sich zunehmend verändert den Bericht der Kliniken an. Es ist erschreckend, in welchem Tempo die Behandlungskapazitäten innerhalb einer Woche vollgelaufen sind. Mein Bericht aus den niedergelassenen Praxen setzt dem noch eins drauf, da die Flut, die uns augenblicklich so zu schaffen macht, in zwei Wochen die Intensivbehandlung in den Kliniken endgültig überfordern wird.
Dann kommt es zum Punkt der Datenbearbeitung durch das Gesundheitsamt: Durch eine massive Fehleinschätzung der Bedeutung liegen die positiven Befunde lange in der Bearbeitungsschleife, bevor sie weiter gemeldet werden. So kamen zunächst Meldezahlen zur bundesweiten Veröffentlichung, die nicht einmal einem Drittel der Realität entsprachen. An Tagen, an denen eine Siebentagesinzidenz von 140 veröffentlicht wurde, lag sie in Wirklichkeit weit über 500. Als mit zunehmender Länge der abendlichen Sitzung der Leitung des Landratsamtes dieses Desasters klar wird, verschärft durch diverse Meldeprobleme der EDV, kommt es zum völligen Kurswechsel. Da ist der Landrat erfreulich entscheidungsstark und bestimmt eine Kursänderung in Richtung ?Ampel rot?. Am Donnerstag tagen wir zunächst intern per Video, um dann für über eine Stunde der Presse Rede und Antwort zu stehen. Nachdem auch rundherum in den anderen Landkreisen, inzwischen in ganz Oberbayern die Versorgung bedroht ist, denkt keiner mehr an weitere Lockerungen.
Die Politik gräbt wieder aus, was vergessen war, Impfpflicht, Kontaktbeschränkungen, es werden Schuldige gesucht. Nun erfahre ich in der Presse aus dem Mund von Jens Spahn, dass wir Ärzte zu langsam und zu wenig impfen, gleichzeitig kommt vom gleichen Bundesgesundheitsminister ein offener Brief mit Lobhudeleien und Dankestiraden über den enormen Einsatz der Hausärzte. Der weiß auch schon länger nicht mehr, was er vor zehn Minuten gesagt hat.
Auf jeden Fall ist die massive Gefahr erkannt, wenn auch längst nicht gebannt.
Nachdem nun auf dieser Ebene wieder die Sicht etwas geklärt ist, und das Gesundheitsamt voll durchstartet um das Versäumte aufzuholen, wenden wir uns wieder der Impferei in der Praxis zu. Da unter der Woche der Bär steppt und keine ruhige Sekunde in der Praxis zu finden ist, müssen wir weiterhin auf die Wochenenden ausweichen. Die Impflisten füllen sich nun stündlich, Junge möchten nun doch geimpft werden, Schwangere suchen rasch noch Schutz durch eine Impfung und die Senioren wollen die dritte Impfung. Plötzlich sind es für heute 70 Impflinge geworden, im Kühlschrank aber nur Stoff für 63 Patienten. Das Impfzentrum, sonst immer voller Impfstoff, von dem man sich in der Not etwas holen kann, ist aber genauso seit unserer Pressekonferenz überrollt worden und kann nichts abgeben. "Zum Glück" hat eine Praxis momentan wegen eines Coronafalles im Team eine kurze Zwangspause und kann uns mit den fehlenden Dosen aushelfen.



Während dieser Zeilen musste ich noch einen Hausbesuch machen, wodurch ich an dem abendlichen Baum zwischen Degerndorf und Holzhausen vorbeikam. Auf dem Bild sieht man den wunderschönen abendlichen Himmel mit seinem Baum, aber im Dunklen ist noch der Weg rechts zu erkennen, der weiterführt. Find ich ein schönes Symbol.

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Fr., 1. Nov. 2021
Dr. Lohse berichtet: die 84. Und 85. Woche der Pandemie in Münsing
Der Kirtamarkt und der jagdgenossenschaftliche Frühschoppen sind richtig gut gelaufen, wobei es uns das Wetter leicht gemacht hat. Bei strahlendem Sonnenschein im Freien zusammensitzen, ratschen, a bisserl was essen oder trinken, das tat wieder richtig gut. Die Jugend des Nachbarortes veranstaltete zeitgleich ein Stadlfest mit über 600 Gästen, hoffentlich war auch hier die Vorsicht stark genug.

Leider ist dieses schon wieder Vergangenheit, leider hat sich der Wind der Pandemie gedreht. Erst in einigen Landkreisen, dann flächendeckend von Traunstein bis zum Allgäu an den Alpen entlang rasen die Inzidenzwerte nach oben. Bayern hat so viele Erkrankte, wie noch nie in der gesamten Pandemie.
Nur nicht in Bad Tölz-Wolfratshausen. Hier sinken die offiziellen Zahlen. Nach längerem Nachbohren im Internet komme ich bei den offiziellen Zahlen vom RKI auch auf den Grund: Die Übermittlung der Daten vom Landratsamt an das RKI hakt, da klappt seit sechs Tagen die EDV nicht. Allein in unserer Praxis erkranken mehr Patienten, als für den ganzen Landkreis gemeldet werden. Aber jetzt ist langes Wochenende, es ist kein Verantwortlicher zu finden.
Mich schmerzt das, da es für den Bürger so wirkt, als sei hier alles auf dem Weg zur Entspannung ? aber das genaue Gegenteil ist der Fall.

In der Praxis wird es jetzt hart: Täglich viele Patienten mit Infekten, mindestens einmal pro Woche 1-2 Patienten mit schweren Covid-19 Infekten. Tränen in Augen derer, die vollkommen von der Nichtexistenz jeglicher Bedrohung durch Corona überzeugt waren und nun atemringend und hustend vor den CT-Bildern der befallenen Lunge stehen und Angst haben, zu sterben. Durch sofortige Behandlung mit all dem, was wir inzwischen gelernt haben - und ein bisschen Erfahrung haben wir inzwischen gesammelt - schaffen wir es in den letzten beiden Wochen, Klinikeinweisungen zu verhindern und diese Verläufe trotz Organbefall zu stabilisieren.
Die Kliniken, die kippen uns völlig ab: In der Landeshauptstadt München stehen keine Intensivstationen mehr mit freien Betten zur Verfügung. Unser Verbund (die Landkreise Tölz, Garmisch und Weilheim) hat nur noch sehr geringe freie Intensivkapazitäten und kann nur noch eigene Patienten versorgen. Vorbei die Zeit, als wir anderen anderen Landkreisen helfen konnten. Oft steht abends nur noch ein einziges freies Bett für Intensivbehandlung zur Verfügung.
Die Gründe sind vielschichtig: An erster Stelle ist der Personalmangel zu nennen. Viele Menschen in der Intensivmedizin sind durch die Belastung der letzten eineinhalb Jahre ausgebrannt, krank oder haben sich umorientiert. Es stehen auf fast jeder Intensivstationen Betten ohne Personal. Hier schnell mal jemanden einzuteilen, der aus einem anderen Bereich kommt, ist angesichts der hochspeziellen Kenntnisse nur sehr eingeschränkt möglich.
Ein weiterer Punkt ist das Lebensalter der Patienten. In einer der Landkreiskliniken wird seit weit über vier Wochen ein 27-jähriger ungeimpfter vordem gesunder Mann beatmet. Wäre er 50 oder 60 Jahre älter, so hätte er nicht bis hierher überlebt. So aber hatte er ein junges gesundes Herz, hatte eine junge gesunde Lunge und andere Organe. Zwar darf man hoffen und ihm von ganzen Herzen wünschen, dass er den sehr langen Kampf übersteht, aber die Behandlungseinheit ist sehr lange für diesen einen Menschen belegt. Auf den Intensivstationen sind die Patienten mit Covid-19 insgesamt deutlich jünger geworden.
Auch auf Normalstationen sind wieder immer mehr Covid-19 Patienten zu finden, die Kliniken versuchen sich anzupassen. Die wahre Gefahr aber liegt darin, dass wir - eines der reichsten und modernsten Länder - nur noch wenig Luft nach oben haben, Schwerkranke Covid-19 Patienten zu versorgen.
Zurück in den Praxisalltag: Als Codo für den Landkreis beginne ich eine Umorientierung für alle Arztpraxen. Das eigentlich sehr sinnvolle Impfen durch die Hausärzte verlagere ich zunehmend zurück in das zentrale Impfzentrum. Heute am Samstag schoben wir Sonderschicht und impften 50 Patienten in der Praxis. Unter der Woche geht das aufgrund der vielen Infektpatienten schon nicht mehr. Da gerade im Südlandkreis die Praxen noch viel mehr unter Druck stehen, versuche ich alles, was nicht unbedingt sein muss, aus den Praxen herauszuziehen. Also kommt das Impfen wieder bevorzugt in das Impfzentrum. Wir haben für unsere Praxis zwar noch den nächsten Samstag und übernächsten Freitag mit je 50 Impfungen geplant, werden aber dann das Impfen nicht mehr schaffen, wenn die Welle uns so überrollt, wie es gerade aussieht.
Außerdem bin ich ab Mitte November für drei Wochen in meiner ?Reha? im Sauerland. Ich habe jetzt schon ein schlechtes Gewissen, dass ich gerade mitten in der vierten Welle in eine Auszeit gehe. Aber wenn ich warte, bis die Pandemie endgültig vorbei ist, stehe ich vielleicht schon kurz vor der Rente? Eigentlich ist auch alles geplant, die Kolleginnen hatten jetzt noch einmal eine Woche frei, die Termine sind stark ausgedünnt, so dass genug Platz für Infektpatienten bliebe. Als Kompromiss werde ich das Handy entgegen ursprünglichen Vorsätzen mitnehmen.

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