Mittwoch, 10. November 2021
Mi., 10. Nov. 2021
Dr. Lohse berichtet: die 86. Woche der Pandemie in Münsing
Es wird Abend, scherenschnittartig heben sich die blauen Berge für den herbstlichen Abendhimmel, der Frost wird in ein paar Stunden die Wiesen weiß überziehen und morgen steigen nach dem Sonnenaufgang die Nebel - fast zu kitschig, um wahr zu sein. Aber dieses gewohnte Bild strahlt Ruhe aus.



In diesen Tagen hat sich wirklich in Sachen Pandemie wieder vieles gedreht: Nachdem über das verlängerte Wochenende niemand direkt erreichbar schien, gelingt es dann doch, die mit im Boot sitzenden Ärzte der Krankenhauskoordination zu erreichen. Dann geht es schnell: Am ersten Tag nach dem langen Wochenende kommt abends eine Krisensitzung im Landratsamt zustande, bei der unter Wahrung aller Gesichter das Ausmaß der Fehlentwicklung mühsam auf den Tisch gehoben wird. Landrat, Geschäftsleitung, Katastrophenschutz, Jurist und das Gesundheitsamt hören sich zunehmend verändert den Bericht der Kliniken an. Es ist erschreckend, in welchem Tempo die Behandlungskapazitäten innerhalb einer Woche vollgelaufen sind. Mein Bericht aus den niedergelassenen Praxen setzt dem noch eins drauf, da die Flut, die uns augenblicklich so zu schaffen macht, in zwei Wochen die Intensivbehandlung in den Kliniken endgültig überfordern wird.
Dann kommt es zum Punkt der Datenbearbeitung durch das Gesundheitsamt: Durch eine massive Fehleinschätzung der Bedeutung liegen die positiven Befunde lange in der Bearbeitungsschleife, bevor sie weiter gemeldet werden. So kamen zunächst Meldezahlen zur bundesweiten Veröffentlichung, die nicht einmal einem Drittel der Realität entsprachen. An Tagen, an denen eine Siebentagesinzidenz von 140 veröffentlicht wurde, lag sie in Wirklichkeit weit über 500. Als mit zunehmender Länge der abendlichen Sitzung der Leitung des Landratsamtes dieses Desasters klar wird, verschärft durch diverse Meldeprobleme der EDV, kommt es zum völligen Kurswechsel. Da ist der Landrat erfreulich entscheidungsstark und bestimmt eine Kursänderung in Richtung ?Ampel rot?. Am Donnerstag tagen wir zunächst intern per Video, um dann für über eine Stunde der Presse Rede und Antwort zu stehen. Nachdem auch rundherum in den anderen Landkreisen, inzwischen in ganz Oberbayern die Versorgung bedroht ist, denkt keiner mehr an weitere Lockerungen.
Die Politik gräbt wieder aus, was vergessen war, Impfpflicht, Kontaktbeschränkungen, es werden Schuldige gesucht. Nun erfahre ich in der Presse aus dem Mund von Jens Spahn, dass wir Ärzte zu langsam und zu wenig impfen, gleichzeitig kommt vom gleichen Bundesgesundheitsminister ein offener Brief mit Lobhudeleien und Dankestiraden über den enormen Einsatz der Hausärzte. Der weiß auch schon länger nicht mehr, was er vor zehn Minuten gesagt hat.
Auf jeden Fall ist die massive Gefahr erkannt, wenn auch längst nicht gebannt.
Nachdem nun auf dieser Ebene wieder die Sicht etwas geklärt ist, und das Gesundheitsamt voll durchstartet um das Versäumte aufzuholen, wenden wir uns wieder der Impferei in der Praxis zu. Da unter der Woche der Bär steppt und keine ruhige Sekunde in der Praxis zu finden ist, müssen wir weiterhin auf die Wochenenden ausweichen. Die Impflisten füllen sich nun stündlich, Junge möchten nun doch geimpft werden, Schwangere suchen rasch noch Schutz durch eine Impfung und die Senioren wollen die dritte Impfung. Plötzlich sind es für heute 70 Impflinge geworden, im Kühlschrank aber nur Stoff für 63 Patienten. Das Impfzentrum, sonst immer voller Impfstoff, von dem man sich in der Not etwas holen kann, ist aber genauso seit unserer Pressekonferenz überrollt worden und kann nichts abgeben. "Zum Glück" hat eine Praxis momentan wegen eines Coronafalles im Team eine kurze Zwangspause und kann uns mit den fehlenden Dosen aushelfen.



Während dieser Zeilen musste ich noch einen Hausbesuch machen, wodurch ich an dem abendlichen Baum zwischen Degerndorf und Holzhausen vorbeikam. Auf dem Bild sieht man den wunderschönen abendlichen Himmel mit seinem Baum, aber im Dunklen ist noch der Weg rechts zu erkennen, der weiterführt. Find ich ein schönes Symbol.

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