Dienstag, 17. Mai 2022
Sa., 26. März 2022
Dr. Lohse berichtet: Die 103-106. Woche der Pandemie in Münsing
Ende März ? da möchte ich ein Vöglein sein. Vor sechs Uhr morgens würde ich gemeinsam mit meinen Freunden um die Wette pfeiffen in der Hoffnung, dass die Schönste unter den Vogeldamen meinen Gesang erhört und mit mir gemeinsam ein Nest baut. So viel Lebenskraft und Unverdrossenheit!
Die Wiese ist gespickt mit Narzissen, Schlüsselblumen und anderen Boten der nahenden Wärme, trotz allem.
Trotzdem es seit vier Wochen nur einmal geregnet hat, Sahararegen, der das Land mit rotem Staub überzogen hat.
Trotzdem die Luft so trocken und staubbeladen ist, dass der Mond abends wie eine rote Laterne glühend den Horizont übersteigt und ein unheimliches Bild abgibt.

Trotzdem über dem Land der Menschen Schatten liegen. Für uns Menschen ist diese Unbekümmertheit ein selteneres und wertvolles Gut geworden, sorgenvoll blicken viele nach Osten, Nachrichtensendungen mag man gar nicht mehr sehen. Wieviel wühlt der Krieg auf, wie viele Ängste und Leid werden angefacht?

Eine alte Frau berichtet gestern in der Sprechstunde von ihren Alpträumen, den Erinnerungen von 1945, einer Zeit die sie als Grundschulkind erlebte. Die Bilder der ausgehungerten KZ-Häftlinge, die hier durch die Dörfer getrieben wurden, lassen sie nicht los. Der Vater hatte in größter Heimlichkeit gekochte Kartoffeln an den Wegesrand der Elendsroute gestellt und sie wird heute wieder verfolgt von den Bildern, die sie damals erleben musste. Wieder geweckt werden diese Erinnerungen von Bildern des Hungers, der Bomben und Vertreibung, die uns täglich aus dem Kriegsgebiet erreichen. Lange erzählt sie, das erste Mal, denn als Kind war sie wenig beachtet, keiner hatte Zeit für ihre Nöte, und dann wollte das keiner mehr wissen und wahrhaben.
Im Wochenenddienst kommen erste Flüchtlinge in die Sprechstunde. Ein fieberndes Kind, mit der erschöpften Mutter nach 36 Stunden Autofahrt und einer schmerzgeplagten Großmutter. Über die Dörfer geht eine Welle der Hilfsbereitschaft, es werden Sammlungen veranstaltet, karitative Frühlingsmärkte abgehalten und die Grundschule macht Ukraineaktionen. Das hilft Jung und Alt, das Mitleiden auszuhalten und sich selbst aus der Hilflosigkeit zu befreien.
Als ärztlicher Koordinator und Versorgungsarzt für den Landkreis wachsen die Aufgaben. Die Pandemie, leider noch längst nicht in der Ruhephase des Frühlings, tobt und treibt die Infektionszahlen in schwindelerregende Höhen. Zwar ist der Anteil schwer Erkrankter sehr viel geringer, aber es reicht voll und ganz, die Normalstationen der Kliniken zu füllen. Beatmete sind es nicht viele, die Todesfälle durch Korona steigen auch nicht steil an. Aber die Ausfälle durch Erkrankungen in Form von Krankschreibungen sind auf einem Allzeithoch. Auch in unserer Praxis fallen Mitarbeiter durch eigenen Infekt oder Erkrankung in der Familie aus. Es ist verflixt eng, die Stimmung ist angespannt und die Arbeit in Form von Testungen, Behandlungen, Krankschreibungen ist schier nicht zu bewältigen. Andere Patienten können nicht mit der gewohnten Ausführlichkeit behandelt werden, wobei wir alle versuchen, keine Nachlässigkeit aufkommen zu lassen.
In diese Situation hinein kommt nun die Welle Vertriebener und Flüchtender aus der Ukraine. Der Landkreis versucht eilends Turnhallen umzugestalten. Dort sollen die Ukrainer aber nur kurz verweilen und rasch auf dezentrale Unterkünfte (Privatwohnungen, Hotels ..) verteilt zu werden. Noch klappt das gut. Problematisch ist immer wieder, die Helfervorstellungen und die Vorstellungen Geflüchteter in Übereinstimmung zu bekommen. So wird immer wieder von ?Unzufriedenheit? über die Unterkunft berichtet, von ?Anspruchsdenken? Geflohener. Hintergrund sind tatsächlich teils völlig verquere Vorstellungen von Gastgebern, die sich als Helfer definieren, aber von den Alltagsproblemen keine Ahnung haben und die Gäste nach kurzem schon als Belastung empfinden. Auf der anderen Seite sind bei den Fliehenden auch große kulturelle und soziale Unterschiede ganz normal, Ukrainer sind ja auch nicht alle gleich. In den großen Sammelunterkünften treten immer wieder Spannungen durch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auf, die sich auch in der eigenen Heimat schon argwöhnisch beäugen. So müssen wir ? wie schon in früheren Flüchtlingswellen ? darauf achten, dass wir vor großem Helferengagement die Realitäten nicht aus dem Auge verlieren.
Durch Ausweitung des immer noch geltenden bayerischen Katastrophenfalles von der Pandemie auch auf die Ukraineflüchtlinge sind meine Aufgaben mehr geworden. Nun habe ich auch noch die medizinische Versorgung dieser Menschen zu koordinieren. Also werden die selten gewordenen Fahrten nach Bad Tölz zu Besprechungen wieder regelmäßig, abendliches Arbeiten am Laptop wieder fester Bestandteil des Alltages. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in unserem Land die Beherbergung und Versorgung der Flüchtlinge gut und in Anstand bewerkstelligen können, solange wir uns unserer Stärken bewusst bleiben und die Realität als Maßstab nutzen. Natürlich sind nach über zwei Jahren viele ausgebrannt und erschöpft, natürlich ist vieles nicht so, wie wir es uns vorstellen. Aber im Blick auf heute und morgen können wir Schritt für Schritt das Notwendige unternehmen und in Abschätzung der Zukunft bedächtig bleiben.
Leider ist meine Einschätzung, dass pandemisch ab Ostern Ruhe einkehrt, zu optimistisch gewesen, die Inzidenzen verharren auf weiter hohem Niveau. Sehr sehr bedauerlich ? aber es ist so. Ostern wird es trotzdem.
Nun ist es Wochenende, die Narzissen leuchten in der Sonne, die Vögel suchen die ersten Halme. Nun werde ich die Unbekümmertheit der Vögel zum Vorbild nehmen, bisserl Schreibkram machen, bisserl Garten und morgen mit der Familie und den Enkeln grillen.

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