Dienstag, 17. Mai 2022
Di., 19. April 2022
Dr. Lohse berichtet: Die 108. Und 109. Woche der Pandemie in Münsing, Ostern 2022
Auf Mallorca kann man auch etwas frieren. Tagsüber lädt das Wetter mit Temperaturen um die 20 Grad zum Wandern auf der grasgrünen Insel ein, abends allerdings könnte ich mir durchaus Glühwein vorstellen ? wenn sich der mir nicht immer auf den Magen schlagen würde. Kühl wird es, der Pulli wird ausgepackt und die letzten Ostereier gefuttert.



Die vergangenen Monate und Jahr hatten der Praxis und jedem Mitarbeiter das Äußerste abverlangt, so dass jetzt einfach eine Pause dringend anstand. 10 Tage sperren wir zu, dann geht es wieder in der Münsinger Praxis weiter.
10 Tage, die meine Frau und ich nutzen, vom lieben Nachbarn zum Flughafen gebracht werden, um einige wenige Stunden später das Ferienhäuschen der Schwiegerfamilie zu beziehen.
Die Pandemie begrüßt mich natürlich auch hier morgens beim Ensaimada -(typisches verboten leckeres mallorkinisches Gebäck) ? Holen beim Bäcker. Auf der Straße wird geduldig gewartet und dann geht man einzeln mit Maske in die Backstube. In allen kleinen Geschäften ist das hier eine Selbstverständlichkeit, auch im Supermarkt wird Maske getragen.
Aber wie ferne nun das alles zu sein scheint, die Last der Verantwortung, in die ich in den letzten Jahren gewachsen bin, die ewigen vollkommen sinnlosen Aufregungen der Wichtigtuer, die vielen Fragen und Unsicherheiten dieser neuen Erkrankung. Zwar trifft meine Prognose mit ?Ostern ist es vorbei? nicht ein, aber immerhin hat die Inzidenz mir den Gefallen getan, steil abzusinken und es wird merklich ruhiger um das Thema.
Auch die neuen Aufgaben, die Versorgung der Ukraineflüchtlinge in gesundheitlicher Hinsicht sind nun zwei Stunden Flugzeit entfernt. Zwar lese ich sorgenvoll die Nachrichten über dieses neueste europäische Desaster, rätsele über die Psyche eines Autokraten und seiner großen Gefolgschaft aber ich realisiere gleichzeitig die Ferne dieses Geschehens.
In Diskussionen mit Ortsansässigen von Mallorca ist es noch weitaus distanter, nicht einfach nur einige Autostunden entfernt.
In der leisen Stille des Abends schleicht sich eine Frage ein: Darf ich angesichts des Leides durch Krankheit und Krieg so richtig abschalten und so tun, als gäbe es das alles nicht? Was sich in China auftut, ein Viertel der Bevölkerung dieses Milliardenstaates unter Quarantäne, Abwürgen der Wirtschaft und der Lebensgrundlagen für viele Millionen, darf das an mir vorübergehen und ich mit Genuss ein Glas Wein im Sonnenuntergang trinken? Darf ich, auch wenn die Gefahr besteht, dass nach 77 Jahren Geschichte vielleicht wieder Atombomben gezündet werden können, einen Flug nach Mallorca buchen?
Ich glaube, ich muss es sogar. Nicht unbedingt einen Flug nach Mallorca, aber etwas Positives genießen, etwas Gutes erleben. Meine Verantwortung ist, dass ich es keinem anderen wegnehme, aber dieses Erholen, dieses Aufnehmen einer schönen Wanderung oder eines stillen Sonnenunterganges, holt mich aus der Erschöpfung.
Und die Erschöpfung trägt in sich die Gefahr, Gutes aufzugeben. Einige Patienten, gerade Verzweifelte und Erschöpfte betonen, wie gut ihnen diese ruhige Gelassenheit tut, die sie bei mir empfinden, wie sicher sie sich dann fühlen, auch wenn eine schlimme Krankheit einen schweren Weg vorzeichnet.

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