Montag, 25. Mai 2020
Mo., 25. Mai
Dr. Lohse berichtet (11) Die elfte Woche der Pandemie in Münsing:
Ja, ist denn überhaupt noch Pandemie? Rückt das nicht wieder weit weg – wenn nicht nach China, dann doch wenigstens nach Brasilien in den Urwald oder in irgendwelche Favelas. Ja, es rückt wirklich wieder weiter weg von uns.

Es ist schon eine sehr moderne Krankheit, sie passt so gut in unsere Zeit: Wir lesen davon, wir sehen schockierende Bilder, wir bilden uns, wir wissen vieles, das meiste sogar besser. Es wird für uns reagiert, es wird uns gesagt, was zu tun ist. Aber so richtig schlimm und konkret ist es ja – vielen Dingen und Gott sei Dank – nur für wenige geworden. Konkret sind immer noch die Beschränkungen, ärgerlich und einschränkend. Auch ich hoffe, dass die gebuchte Schiffspassage Ende Juli möglich sein wird, auch ich hoffe, dass unsere jüngste Tochter vorher noch ihre Hochzeit gebührend feiern kann. Aber was wenn nicht? Zeit, ein bisschen Bilanz zu ziehen: Vor einem Jahr lernten wir den Namen Greta kennen, machten wir uns vielleicht Sorgen um den Klimawandel, oder auch nicht. Wir schüttelten den Kopf über Großbritanniens Brexit-Geschiebe und ängstigten uns vielleicht über Trumps Kriegstreiberei gegenüber dem Iran. Wir grillten, gossen den Garten, die Waldbauern grämten sich über den Borkenkäfer und die Trockenheit. Wir freuten uns auf den nahenden Sommerurlaub und dachten das ginge ewig so weiter, wenn uns nicht vorher der Himmel auf den Kopf fallen würde.

Nun ein Jahr später sind wir in einer relativen Ruhephase nach einer hohen Anspannungszeit. Wir kennen Pandemie nicht nur als Gesellschaftsspiel (so etwas gibt es wirklich seit Jahren!), wir haben Geschichtsproduktion live miterlebt. Neben den etwas reichlicher gelagerten Lebensmitteln liegt ein ausreichender Vorrat an Klopapier, an Stoff- und anderen Masken in der Speis. Im Auto baumelt am Spiegel nicht mehr ein kleines Paar Schuhe (war bei mir noch nie so, ich habe es aber andernautos so gesehen!), sondern eine Mund-Nasen-Maske. Neben dem Eingang und auf der Toilette steht ein Fläschchen Desinfektionsmittel, gefüllt mit phantasievollen virentötenden Flüssigkeiten. Und wir umarmen uns nicht mehr. Ein Bussi geht ja schon gar nicht mehr, für manchen ein Verlust, für viele auch eine Erleichterung.

Jetzt – unmittelbar jetzt – geht es mir gut, ich kann Teile meiner Freunde wieder sehen, wir können zusammen sitzen und ratschen. Auch die Rehe lassen sich wieder sehen und in den Kochtopf locken. Die Füchse haben ihre Jungtiere und sind total niedlich zu beobachten, wenn sie in der Sonne am Bau tollen und balgen. Abends, wenn ich nach Hause fahre, biege ich sehr vorsichtig um die Ecke, da unsere Einfahrt ein Igeltummelplatz ist.
Aber wir dürfen noch nicht wieder gemeinsam Singen, gemeinsam spontan in die Kirche gehen, es gibt keine Konzerte. Neben diesen sehr egoistisch – persönlichen Blickwinkeln sehe ich auch die anderen: Viele können nicht arbeiten, vielen steht das Wasser bis zum Hals und sehr viele können sich aus ihren Ängste noch nicht lösen.
Selber bin ich weiter optimistisch sorgenvoll. Wie bereits wiederholt festgestellt: Weder das Virus, noch wir haben unsere Biologie verändert. Nur wir können unser Verhalten ändern. Ein langer Tanz mit dem Auftauchen von Infektionsherden steht uns bevor, da habe ich keinen Zweifel.
Aber jetzt ist definitiv eine Ruhezeit. Jetzt dürfen wir unsere Anspannung auf die Seite legen, tief Luft holen und uns wieder ordnen.
Jetzt wissen wir um das richtige Verhalten und lernen immer noch etwas dazu. Jetzt haben wir genug Klopapier, Masken, Konserven. Jetzt lass uns zurücklehnen und einen Kaffee trinken, dann können wir auch tanzen, komme was da wolle.

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