Samstag, 25. April 2020
Sa., 25. April
Dr. Lohse berichtet (7): Die siebte Woche der Pandemie in Münsing
Deutschland näht. Es ist früher Morgen, ich – der Frühaufsteher – setze mich mit dem Laptop an den Tisch, schiebe aber erst vorsichtig Nähsachen zur Seite. Vor etlichen Wochen kursierten noch Spott-Videos, wie aus BHs oder einer Unterhose ein Mundschutz gebastelt wird. Jetzt kursieren mehr oder weniger professionelle Anleitungen zur Heimanfertigung von Masken. Die Beste stammt dialektmäßig unverkennbar aus Schwaben mit coolen schwäbischen Anleitungen garniert, die mit Abstand schlechteste kam mit dem Aiwanger-Ballen:
Nachdem klar ist, dass sich die Laster mit PSA (wichtiger Ausdruck der heutigen Zeit: Persönliche SchutzAusrüstung) ständig verfahren und selten ankommen, reagiert die Landespolitik prompt und pragmatisch und schickt Ballen. Aiwangervlies. Der Staatsminister Aiwanger organisiert maskennähgeeigneten Vlies aus verborgenen Quellen, je – so habe ich gehört – 30 Quadratmeter weißen Filtervlies. Dazu eine Anleitung, ein kopiertes unleserliches Blatt. Es lässt vermuten, dass hier vielleicht ein Bierzelt in memoriam der abgesagten Wiesn zu falten ist – als Trost für die angeblich tief verstörte bayerische Volksseele?

Ich persönlich finde die Masken aus Aiwangervlies, zubereitet auf schwäbische Art, nicht schlecht. Sie schützen den anderen vor unserem Atemstoß, werden sicher helfen, die Ausbreitung der Viren zu bremsen. Beim Landvolk kommen sie nicht so gut an: Die gefertigten Aiwangervliesmasken sind weiß, langweilig und irgendwie lapprig und vor allem sehr unpersönlich. Deswegen ist ein wunderbarer Wettbewerb entbrannt, wer aus welchen Stoffen die schönste Maske bastelt. Ungeahnte individuelle Ausdrucksformen entwickeln sich! Eher kühle nüchterne Zurückhaltung kontrastiert mit bunten Schmetterlingen, die Formen gehen von breiten autokühlergrillgleichen Querformaten zu entenschnabelgleichen Kunstwerken. Gothic schwarz gegen Folklore, Pragmatisch-technisch einfach gegen liebevoll detailliert ausgearbeiteten Kunstwerken. In der Hauswirtschaftsschule ist eine der Hausaufgaben das Nähen einer Maske. Es macht Spaß den Patienten in das verhüllte Gesicht zu blicken und das medizinische Gespräch mit dem Muster der Maske zu beginnen. Wenn die Maske selbst gemacht ist, ist der Blick eindeutig klarer, der Kopf erhoben – stolz – ja wir packen das, wir helfen uns und lassen uns nicht unterkriegen.

Das Landratsamt hat seinen ersten Trainerwechsel hinter sich: wir haben einen neuen kommissarischen Versorgungsarzt. Wir richten auf Weisung des Ministeriums eine Praxis in Wolfratshausen für Coronapatienten ein. Es wird in der Staatsregierung befürchtet, dass etliche Patienten nicht in den normalen Hausarztpraxen behandelt werden, da PSA fehlt oder warum auch immer. Zwar kommen jetzt Lockerungen des Stillstandes, aber wir wissen ganz genau, dass uns dadurch bald eine zweite Phase der Pandemie erreichten wird. Deswegen führen wir Drive-In weiter und richten die „SPP“ (wichtiger Ausdruck der heutigen Zeit: SchwerPunktPraxis) in Wolfratshausen ein.

Aber jetzt, am Samstag um 06:26, suche ich meine Tagesmaske (türkis, ein nicht mehr benötigtes Bettlaken), meinen Geldbeutel und gehe Semmeln holen, um danach im Garten zu krautern und ein kleines bisschen Urlaubsgefühl zu tanken.

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Kaum zu glauben Jeden Morgen ist es eine meiner ersten Handlungen, die neuesten Zahlen zu Corona in Augenschein zu nehmen. Dabei überraschend: wie seit Wochen an erster Stelle America first, wie sich's gehört, aber ohne Zahlen, statt dessen der Text "Die Daten erscheinen unplausibel".



Im Grunde ist es die ganze Zeit schon unglaublich, wie das Virus sich in diesem hochentwickelten Land ausbreiten kannen. Aber was war los? Wir wissen es nicht, aber ich vermute mal, Trumpl hatte eigene Zahlen per Twitter gemeldet, die man dann doch lieber nicht veröffentlichen wollte. Wenn man gestern in den Nachrichten gesehen hat, wie seine medizinische Beraterin völlig verstört dasaß, während er seine Desinfektionsspritzen-Theorien verbreitete, kann man sich das gut vorstellen.

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Dummheit oder Ignoranz? Vorhin kam meine Frau vom Joggen mit unseren Kindern zurück. Sie erzählte, dass ihnen auf der Schwabbrucker Straße ein Rudel von ca. 15 Rentnern (vermutlich) auf Fahrrädern entgegenkam. Ich frage mich, was das soll. Haben die Leute eine solche Torschlusspanik, dass sie nicht schaffen, eine Zeit lang mal auf solche Unternehmungen zu verzichten? Wir versuchen, den Kindern zu vermitteln, dass es nicht geht, sich mit Freunden zu irgendwelchen Aktivitäten zu verabreden – und dann sowas! Es zeigt sich, dass es kontraproduktiv ist, an Lockerungen überhaupt nur zu denken. Ist es wirklich zu viel verlangt, sich vorzustellen, dass es eine zweite exponentielle Welle geben könnte, die einen wesentlich strengeren Lockdown zur Folge haben würde?

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